An Daniel C., 20. März 2003
Es geht mir hie und da durch den Sinn, dass ich Dir noch gar nicht von meiner "Behinderung" geschrieben habe. Ich glaube, in meinem damaligen Inserat hab ich sie kurz erwähnt, um nachher nicht wegen Verschleierung eines Deffektes und Missachtung der Gesetze des schwulen Fleischmarktes vor den Kadi gezerrt zu werden. Es ist schon etwas eigenes mit diesem Behindertsein. Man ist ja ein Mensch wie jeder andere, so wird einem von allen Seiten und zu fast allen Zeiten beteuert, aber in meinem Gefühl ist diese gute Nachricht offenbar noch nicht angekommen, obwohl ich andauernd in meiner Psyche herumwerkle und sie bzw. mich in Sachen Selbstbewusstsein auf Vordermann zu bringen versuche. Es ist ein wenig wie mit dem Schwulsein - süss klingt die Melodie der Toleranz, doch mein Herz glaubt dem Gefiedel nicht so recht. Es sitzt misstrauisch auf der Mauer und guckt zu. So schnell vergess ich nicht. Und was hab ich doch in Sachen Behinderung vor zwei oder drei Tagen gelesen: ein japanisches Forscherteam hat eine Methode gefunden, die es vielleicht bald ermöglichen soll, den Gesundheitszustand eines Fötus im Blut der Mutter feststellen zu können. Damit werden die etwas riskanten und uneleganten Fruchtwasseruntersuchungen unnötig; es genügt ein Tröpfchen Blut der Mutter und die Sache ist im Butter! "Treiben Sie ihr Kind doch ab, es gibt schönere!" "O, es ist kaputt? Dann werfen Sie's doch weg und Sie sind die Sorgen los!"
Lieber Dänu, ich will nicht lange über die Dummheit der Welt jammern und damit um den heissen Brei reden. Meine Behinderung ist dramatisch, ich bin nämlich blind. Ich sage dramatisch, weil ich denke und dies immer wieder mal höre, das Blindheit für viele Menschen zum "Schlimmsten" gehört, was sie sich vorstelln können. Ich selbst finde mein Blindsein überhaupt nicht dramatisch oder schlimm. Im Gegenteil. Ich finde das Blindsein meistens interessant, eine spannende Herausforderung, etwas, was mich daran gehindert hat, allzu schnell normal zu werden und Karriere zu machen im Teich der Haie. Im übrigen spielt das Blindsein eigentlich keine grosse Rolle, wenn ich an all das denke, was mich ausmacht, was mich bewegt, bedrückt, begeistert, berührt und interessiert. Natürlich gibt's Momente, wo es weh tut, nicht sehen zu können, Momente, in denen ich das Sehen wirklich vermisse! Oft ist's auch sau unpraktisch, wenn ich irgendwo im Sumpf stehe und keine Ahnung hab, was jetzt um mich los ist und wo's lang geht. Da kann mir dann schon mal die philosophische Ruhe und die Freude an der Unbeholfenheit abhanden kommen, sodass ich nur noch stresse oder fluche oder mich deprimiert in einen Winkel meiner Seele zurückziehe, doch wie gesagt: Diese Momente sind eher selten. Ich lasse mich auch nicht so leicht wegschüchtern und beeindrucken. Aber dann, wenn ich mit zumindest theoretisch doch erfüllbarer Liebeshoffnung im Herzen auf einen Mann zugehe oder dann, wenn ich auf eine Stelle hoffend an eine Türe klopfe, da werden meine Knie noch immer weich und es wird mir mulmig in der Magengegend.
In solchen Momenten merke ich, wie tief ich die Negativbewertungen von Behinderung und Blindheit internalisiert habe. Plötzlich steigen sie aus ihren Gräbern, bleich und irreal und fangen an in mir herumzugehen, mich zu umstehen und anzuglotzen: "E blinde, lueg, e Blinde!" "Oje, e Blinde! Oje!" "Lueg dört, ..." - Ich fange an, mich gegen die Invasion der Gespenster zu wehren, doch sie sind zäh und ich merke, wie ich mir abhanden komme, wie ich zum Bettler werde, genauso wie es vorgesehen ist im internationalen Rollenspiel. Ich werde traurig und verliere meinen Mut. - IN solchen Momenten brauche ich Freunde, die verstehen, Freunde, bei denen ich einmal abladen, fluchen, jammern und weinen kann - wie kürzlich bei Frank (von dem ich gestern schon schrieb), dem ich mitten in der Nacht ein Mail schrieb und nur immer geweint habe vor dem Compi, weil ich mich wiedermal so nackt und ungewollt gefühlt habe.
... Fortsetzung folgt. Renzo - ja, wieder dieser Renzomann - ist gekommen. Wir wollen später an eine Lesung von Pierre Stutz gehen und vorher noch kurz etwas essen. Ob ich später am Abend noch schreibe, weiss ich nicht, aber sicher morgen! Damit Du aber nicht zu lange warten musst, kriegst Du halt mal diesen etwas abrupt beendeten Ergüsel!
Liebe Grüsse,
Martin