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500 Jahre Schulgeschichte

Wir sind von Kindsbeinen an so sehr an die heute übliche Form von Schule gewöhnt, dass die meisten von uns sich kaum noch eine andere Art von Schule oder gar eine Gesellschaft ohne Schule vorstellen können. Ohne es recht zu merken scheinen wir zu glauben, dass die Schule eine Art Naturphänomen sei, auf welches wir eigentlich keinen Einfluss haben. Dabei ist die moderne, vom Staat betriebene, obligatorische Volksschule eine verhältnismässig junge Einrichtung.

Alte Schule

Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein hing der Lebensweg der Menschen kaum von ihrem Schulerfolg oder von ihren Schulzeugnissen ab. Man hatte zwar bereits im 16. Jahrhundert von der Notwendigkeit einer für  das ganze Volk, d.h. für alle Untertanen obligatorische Schule gesprochen. Im Zuge der von Martin Luther ausgelösten kirchlichen Reformationsbewegung hatten sich zahlreiche deutsche Fürsten von der katholischen Mutterkirche losgesagt und ihre eigenen Landeskirchen gegründet. Jetzt wollte man eine möglichst alle Volksschichten erreichende Schule, um sicherzustellen, dass das Volk nicht etwa zum alten Glauben zurückkehren oder durch radikale Sektierer wie Thomas Müntzer aufgewiegelt werden würde. Die "Protestanten", die sich eben unter grossem Getöse von der katholischen Mutterkirche getrennt hatten, wollten diese Schule. Anders als in einigen deutschen Fürstentümern, welche in dieser Sache lange als Vorbilder galten, war das Landschulwesen in grossen Teilen der Schweiz (insbesondere den Bergregionen und den katholischen Landesgegenden) noch kaum entwickelt.  Die Aufgabe der Schulen für das einfache Volk (und dies waren damals, als dieses Volk noch zum grössten Teil auf dem Lande lebte, vor allem die Land- oder Dorfschulen) bestand zur Hauptsache in religiöser Erziehung.  Während der drei bis vier Winter, in denen man die Schule besuchte, falls es eine solche in der Nähe überhaupt gab und sie nicht gerade wieder einmal unbesetzt war, wurde vor allem der Katechismus durchgenommen und eingeübt.  In ihm stehe alles, so hiess es allgemein, was ein anständiger Mensch und Christ zu wissen brauche.  Hinzu kam, je nach Geschick des Schulmeisters, noch etwas Schreiben und singen, und – vor allem bei den Söhnen der besser gestellten Bauern - ein wenig Rechnen.  Andere Schulfächer kannte man damals nicht.

Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Mehrzahl der Dorfschullehrer überhaupt nicht oder nur sehr beschränkt für ihren Beruf ausgebildet. „Nur zwei schweizerische Kantone", so schrieb A. Wirz 1825 im Rückblick auf die Situation und die Ausbildung der Volksschullehrer in der Schweiz des Ancien Rigime, «weisen bereits vor unserer Revolution von 1798 einige bestimmte Spuren eines regelmässigen Lehrerunterrichtes auf.  In allen anderen halfen wohl einzelne Pfarrer den Vorübungen der Schulmeister nach, sonst aber bildete sich jeder zum Schulmann wie er mochte und konnte, froh, die Fertigkeit selbst gewonnen zu haben, um die Methode meistens unbekümmert.  Wer als Handwerker nicht genug erwarb, als abgedankter Söldner oder Bedienter sich nicht zu helfen wusste, als Schreiber sein Brot nicht mehr fand, daneben die grossen und kleinen Buchstaben erkennbar zu malen verstand, sich nicht fürchtete, einen Psalm anzustimmen und ohne gar zu grossen Anstand las, der durfte es wagen, sich um einen Schuldienst umzusehen." [1]

Die Schulräume waren in der Regel eng und überfüllt.  Schulstuben mit 80, 100 oder mehr Kindern waren keine Ausnahme.  Nicht selten war ein Schulmeister gezwungen, in seiner eigenen Wohnung Schule zu halten, weil die Gemeinde den Bau eines besonderen Schullokales als unnötigen Luxus empfand oder in den Wintermonaten an Heizmaterial sparen wollte. - Das Ansehen der Dorfschullehrer war gering.  Ihre Besoldung reichte in der Regel selbst bei einfachster Lebensführung nicht aus, sich selbst und ihre Familie zu ernähren, so dass sie gezwungen waren, sich mit allerlei Arbeiten neben der Schule zusätzliches Geld zu verdienen. Dass sie ihre Arbeit unter diesen Bedingungen häufig eher schlecht als recht ausübten kann man sich leicht vorstellen.

Vor allm auf dem Land spielten die Pfarrherren in Sachen Schule bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine besonders wichtige Rolle: Sie übernahmen nicht nur gelegentlich einen Teil des Unterrichts und beaufsichtigten als moralische Instanz und häufig auch als weltliche Vorgesetzte die in ihren Gemeinden tätigen Schulmeister. Sie waren auch diejenigen, die sich gegenüber der Elternschaft und gegenüber den Gemeindeoberen für die Schule einsetzen mussten. Wo sich der geistliche Herr nicht für die Schule interessierte war es um ihre Qualität deshalb in der Regel schlecht bestellt, denn für die Gemeinden bedeutete die Schule vor allem unnötige Ausgaben, egal, wie wenig man für Lehrer und Schulraum investierte, und die Mehrheit der Eltern empfand sie als lästigen Eingriff in ihr Privatleben.

Die Schulreformpläne der helvetischen Zentralregierung 1798 bis 1803

Unter dem Einfluss der von Frankreich herkommenden aufklärerischen Gedanken eines Rousseau oder Voltaire und angesichts der ersten Zeichen des anbrechenden Maschinenzeitalters (die erste mechanische Spinnmaschine der Schweiz wurde 1801 in St. Gallen, in den Räumen des ehemaligen Klosters, aufgestellt) nahm das öffentliche Interesse an der Schule auch in der Schweiz gegen Ende des 18. Jahrhunderts spürbar zu. Dabei bildete das Schulwesen lediglich einen Teil einer vor allem im Rahmen der 1762 gegründeten „Helvetischen Gesellschaft" geführten, alle Lebensbereiche umfassenden nationalen Reformdiskussion, welche wir heute mit Namen wie Isaac Iselin, Johann Jakob Bodmer, Franz Urs von Balthasar, Johannes von Müller, oder Johann Heinrich Pestalozzi verbinden. [2] [3]

In dem Mass, in dem das Interesse an der Volksschule, d. h. der Schule für das einfache Volk, zu wachsen begann, gewann auch die Meinung an Boden, dass diese im Grunde eine Aufgabe des Staates sei und nicht mehr länger der Kirche oder gelegentlichen Mäzenen überlassen werden dürfe.

In der Regel war die Kirche von solchen Ideen weniger begeistert, bedeuteten sie doch einen offensichtlichen Machtverlust und eine Abkehr von den bisherigen Werten derInnerlichkeit hin zu weltllichem Streben und weltlichem Erfolg. Aber auch innerhalb des Klerus gab es stimmen, welche diese Tendenz befürworteten. So schrieb der Einsiedler Abt Konrad Tanner 1787 u.a.: «So lange man es in einem Staate für etwas Unwichtiges oder gar Niedriges ansieht, für die Erziehung der Jugend zu sorgen, und so lange sich eine oberkeitliche Person scheuet, aus dem Schulwesen ein Staatsgeschäft zu machen, so lange wird keine Reforme statt finden, und die Sonne, die sonst allenthalben scheint, wird noch nicht in unseren Thäler eindringen.» - Das Schulwesen soll, so argumentiert Tanner, deshalb vom Staat übernommen werden, «weil er allein das Ansehen besitzt, das zu fassende Projekt in allgemeinen Kredit zu setzen, und dasselbe dem Volke ehrwürdig zu machen; weil er allein die Macht besitzt, die Hindernisse, die von der Sache selbst oder von den Leuten herrühren, aus dem Wege zu räumen; weil er allein das Vermögen besitzt, für den öffentlichen Nutzen mit öffentlichen Ausgaben zu Hülfe zu eilen." [4]

1797/98 griff die französische Revolution auch auf die Schweiz über. Die anfänglich von vielen Intellektuellen des deutschen Sprachraums begeistert begrüsste Revolution hatte ihre Unschuld damals längst verloren. Dem legendären Sturm auf die Bastille vom Sommer 1789 waren die blutigen Richtungskämpfe innerhalb der revolutionären Bewegung und die militärische Aufrüstung Frankreichs gefolgt. Napoleon stand am Anfang seiner Karriere und Europa begann Frankreich als Militärmacht zu bewundern und zu fürchten.

Nachdem es 1797/98 mit Unterstützung französischer Truppen auch in der Schweiz zu einer politischen Revolution im Sinne des egalitär demokratischen Frankreich und zu einer radikalen Neuordnung der politischen Verhältnisse der Schweiz gekommen war, legte Philipp Albert Stapfer, der neue Minister für Künste und Wissenschaft, der helvetischen Zentralregierung, im Herbst 1798 einen Schulgesetzentwurf vor, der dem neuen Geist und den Ideen der Aufklärer und „Volksfreunde" im Stile eines Konrad Tanner oder eines Isaak Iselin genau entsprach: Er forderte die Einführung einer von der Kirche unabhängigen, sechs Jahre dauernden, für Knaben und Mädchen gleichermassen obligatorischen Volksschule in der ganzen Schweiz.  In ihr sollte neben Rechnen, Schreiben und Lesen auch Geographie, Französisch, Verfassungskunde, Hauswirtschaft, Ackerbau und Ähnliches Platz haben.  Wirtschaftliche Lebenstüchtigkeit und politischer Sachverstand, das waren die beiden Ziele der neuen Schule. „Ihr werdet also, Bürger Gesetzgeber», sagte Stapfer zur Begründung seines Vorhabens, «zuerst einen Unterricht veranstalten, der alle Volksklassen umfasse und jeden Bürger des Staates bis auf denjenigen Grad der Einsicht und Fähigkeit fortbilde, auf welchem er einerseits seine Menschenrechte und Bürgerpflichten genau kenne und auszuüben verstehe, andererseits in einem Beruf, der ihn seinen Mitbürgern notwendig macht und ihm eine sichere Unterhaltsquelle eröffnet, mit Lust zur Arbeit ohne Schwierigkeit fortkommen."[5]

Stapfers Schulgesetzentwurf blieb ein Entwurf. Er wurde nie verwirklicht.  Schon vor der, von Napoleon diktierten Rückkehr zum alten Föderalismus im Rahmen der Mediationsverfassung des Jahres 1803 war er, nach langen Verhandlungen, seiner politischen Tendenz und seiner zu hohen Kosten wegen abgelehnt worden.  Dennoch hat er zusammen mit den ihn begleitenden Massnahmen und Beratungen die weitere Entwicklung der Schweizer Volksschule nicht unwesentlich beeinflusst.  Durch Stapfers Initiative wurde nicht nur die Diskussion um die Fragen der äusseren Form der Schule (Trägerschaft, Finanzierung, Schulobligatorium), sondern auch die Auseinandersetzung mit Fragen der Unterrichtsmethoden und Lehrinhalte intensiviert. Auch hier waren Veränderungen dringend angesagt.

Von der Arbeit mit Einzelnen zum Klassenunterricht. Die Geburt der modernen Schule

Bis dahin hatte ein Schulmeister in der Regel mit jedem Kind einzeln gearbeitet, während die anderen um lange Tische sassen und für sich lernten, miteinander schwatzten, vor sich hindösten oder irgendwelchen Unfug trieben.  Diese Art des Unterrichtens galt unter modernen Pädagogen bereits seit einiger Zeit als veraltet. Das neue Schlagwort lautete „Klassenunterricht". „Die Schüler sollten", so Carlo Jenzer in seiner ausführlichen Darstellung dieses Prozesses, „"künftig in (ca. drei) Klassen aufgeteilt und in diesen Klassen zusammen unterrichtet werden.  Klassenunterricht war Zusammenunterricht: Der Lehrer lehrte alle Schüler einer Klasse gleichzeitig das Gleiche auf die gleiche Wem und mit den gleichen Lehrmitteln." (Jenzer 1991, S. 260)

Die Neuerung war radikal. Sie veränderte nicht nur das Geschehen in der Schule; sie veränderte auch ihr äusseres Erscheinungsbild und ihre interne Struktur grundlegend. Statt um lange Tische sassen die Schüler und Schülerinnen jetzt nach Klassen geordnet in nach vorne ausgerichteten Bankreihen. Statt mit einzelnen Kindern zu arbeiten dirigierte der Lehrer den Unterricht jetzt von seinem erhöhten Pult oder von der neben diesem angebrachten, für alle SchülerInnen gut sichtbaren Wandtafel aus. Statt spontan einmal mit diesem, einmal mit jenem Kind zu arbeiten musste er sich jetzt an einen Stundenplan halten, in welchem genau festgehalten war, wann er mit welcher Gruppe bzw. „Klasse" von Kindern lesen, schreiben oder rechnen würde. Dabei dienten einheitliche, auf die „Bedürfnisse" der verschiedenen Schülerklassen zugeschnittene, methodisch durchdachte und systematisch aufgebaute Schulbücher und immer detailliertere Lehrpläne Als Grundlage der Arbeit.[6]

Nicht alle waren von diesen Neuerungen begeistert. Sie scheinen die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Schule im Gegenteil oft noch verstärkt zu haben. So lesen wir beispielsweise in den "Erinnerungen an Joseph Emmanuel Banz, Sextar und Pfarrer von Hildisrieden", der 1801/02 im Kloster St. Urban zum Lehrer ausgebildet und danach 6 Jahre im verschiedenen Orten des Luzerner Hinterlands Schule gegeben hatte: Es war eine Zeit, "da die Landschulen an vielen Orten erst neu errichtet, überall umgeformt und mit schnell wechselnden neuen Einrichtungen und Methoden fortan Proben gemacht wurden, was mit dazu diente, die Eltern,  denen   ohnehin   zugemuthet  wurde,   ihren Kindern immer wieder andere Lehrbücher zu kaufen, gegen die Schulanstalt und den Schulzwang,  deren Nutzen sie noch nicht erkannten, meistens einzunehmen." [7]

Von fortschrittlich liberaler Seite wird diese Entwicklung bis heute dagegen weitgehend positiv bewertet. Sie führte zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit und Effizienz der Schule, welche allgemein als Voraussetzung für die wirtschaftliche und politischen Veränderungen jener Jahrzehnte angesehen wird. Die Einführung des Klassenunterrichts in der Volksschule kann jedoch auch als Ausdruck und Mittel der den Zivilisationsprozess begleitenden zunehmenden Disziplinierung der Menschen beschrieben werden, ein Vorgang, der laut Michel Foucault im 18. Jahrhundert auch im Bereich der Organisation des Militärs,des Kranken- und Armenwesens oder der Gefängnisse zu beobachten ist, und der im wesentlichen in der Verlagerung der Macht von der konkreten Person des Herrschers in anonyme, rational organisierte Institutionen und der zunehmenden Kontrolle des menschlichen Verhaltens durch diese Institutionen besteht. Von diesem Standpunkt aus schreibt Foucault über die in der Schweizer Volksschule Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Wende von Einzel- zum Klassenunterricht: "Die Organisation eines seriellen Raumes war eine der großen technischen Mutationen des Elementarunterrichts, der das traditionelle System (ein Schüler arbeitet einige Minuten lang mit dem Lehrer, während die ungeordnete Masse der anderen ohne Aufsicht müßig ist und wartet) abgelöst hat. Indem er individuelle Plätze zuwies, hat er die Kontrolle eines jeden und die gleichzeitige Arbeit aller möglich gemacht. Er hat eine neue Ökonomie der Lernzeit organisiert. Er hat den Schulraum zu einer Lernmaschine umgebaut - aber auch zu einer Überwachungs-, Hierarchisierungs-, Belohnungsmaschine. (...).Es geht um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine »Ordnung« verliehen werden muß." [8] Die Veränderung wirkte sich nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen, sondern auch auf die Erwachsenen, vorab die Eltern und die Lehrkräfte selber aus. [9] Damit wird die Schule zu einem wichtigen Faktor bei der Herausbildung der modernen "Disziplinargesellschaft". Die Lehrkräfte mussten ebenso regelmässig und pünktlich in der Schule sein, wie ihre SchülerInnen. Deren Eltern waren nicht nur unter Androhung von Strafe gezwungen, dafür zu sorgen, dass ihre Sprösslinge in die Schule gingen; die disziplinierende Wirkung der Schule ging darüber hinaus. Sie beeinflusste auch das häusliche Leben und das auserschulische Betragen der Eltern und ihrer Kinder. So verlangte die Schulordnung des Kantons Graubünden aus dem Jahr 1859 in §22 beispielsweise nicht nur, dass die Kinder "zur rechten Zeit in die Schule geschickt werden und daselbst pünktlich erscheinen"; nein, sie sollten auch „von Haus aus gekämmt, gewaschen, reinlich und anständig gekleidet" sein.

Der in der Organisation der Schule und der Unterrichtsgestaltung zu beobachtende Prozess der Standartisierung und Rationalisierung ging Hand in Hand mit ähnlichen Bemühungen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens angefangen von dem langen Kampf um einheitliche Masse und Gewichte bis hin zu bestimmten Standards bei der kartographischen Erfassung der Erde oder der Zuweisung eindeutiger Nachnamen zur zuverlässigen Erfassung der Bevölkerung. Bei der Durchsetzung der entsprechenden Neuerungen spielte die moderne Schule ihrerseits wiederum eine wesentliche Rolle: So konnte durch sie das zunächst wenig beliebte metrische System populär gemacht und das Auge an die abstrakten, den modernenAnsprüchen genügenden Landkarten gewöhnt werden.

Dass es sich bei diesem Standartisierungsprozess, in den die Schule als "Opfer" und "Täter" eingebunden war, um ein weltweites Projekt handelte (und handelt) zeigt u.a. das Beispiel der von den spanischen Kolonialherren mitte des 19. Jahrhunderts in den Philippinen durchgeführte Namensreform: Im Hinblick auf eine effizientere Steuerverwaltung und eine insgesamt bessere Kontrolle seiner Untertanen verfügte Guvernör und Generalleutnant Narciso Claveria y Zal-dua am 21. November 1849, dass alle Bewohner der Philippinen einen Nachnamen annehmen müssen, der ihre eindeutige Identifikation ermöglichte. Der Vorgang ist typisch für die Rolle, welche feste Nachnamen im aufgeklärten Europa bei der Herausbildung einer zuverlässigen staatlichen Verwaltung gespielt haben. Um die nicht überall populäre Massnahme durchzusetzen wurde auch die Schule eingesetzt, wie James C. Scott in seiner breit angelegten Untersuchung verschiedener Rationalisierungsvorgänge auf dem Weg zur Moderne schrieb: "Schoolteachers were ordered to forbid their students to address or even know one another by any name except the officially inscribed family name. Those teachers who did not apply the rule with enthusiasm were to be punished." Auch wenn die Massnahme angesichts des geringen Schulbesuchs damals eher als Zugabe gewirkt haben dürfte, ist sie doch symptomatisch für die Art und Weise, wie die Schule überall, wo sie in ihrer modernen Form auftaucht, eingesetzt werden konnte und eingesetzt wurde. (James C. Scott: Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven and London 1998, Zitat auf Seite 70)

Im Verlauf des hier beschriebenen Prozesses entsteht laut Franz Kost nicht zuletzt auch die zuvor kaum vorhandene Vorstellung eines „Normalschülers": „Individuelle Begabung und sozialer Status", so Kost in seiner äusserst aufschlussreichen Untersuchung der "Disziplinierung des inner- und ausserschulischen Lebens durch die Volksschule", „spielen (scheinbar) keine Rolle; ob und bis zu welchem Punkt ein Schüler beispielsweise rechnen lernt, hängt weder von einer angenommenen Begabung noch von den finanziellen Mitteln seines Vaters ab.  Entscheidend ist vielmehr das Alter des Schülers.  Von den Schülern gleichen Alters darf man gleiche Begabung und Lern- bzw.  Leistungsfähigkeit erwarten."[10]Die Verwandlung der uneinheitlichen Menge von Kindern und Jugendlichen in Gruppen scheinbar gleicher 1., 2., 7. oder 9.-KlässlerInnen ist die Voraussetzung für die Klasseneinteilung nach dem Alter, die zeitliche Gliederung des Unterrichts und die Ausarbeitung eines verbindlichen Lehrplanes.Die Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Jugendlichen spielen damit in der neuen Schule (zumindest der Idee nach) eine ebenso unwichtige Rolle wie die ausserhalb der Schule liegenden Interessen oder die pädagogischen Visionen ihrer Lehrer und Lehrerinnen.

Die Umwandlung der alten Schule mit ihrem geringen Professionalisierungsgrad, ihren dezentralen Strukturen und ihrer relativen Ineffizienz ging Hand in Hand mit ähnlichen Entwicklungen im Bereich der staatlichen Verwaltung, der Polizei und des Militärs sowie der Wirtschaft. Im Rückgriff auf Michel Foucault schreiben Sachsse und Tennstedt über diese bis heute andauernde Entwicklung: „Disziplinierung ist nicht mehr ein einseitiges Verhältnis der Repression, sondern ein umfassendes Kontrollnetz, das sich in einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Formen gesellschaftlichen Wissens und gesellschaftlicher Praktiken manifestiert. Und gerade indem sich Disziplinierung verallgemeinert, tritt ihre offen repressive Seite zurück. Disziplinierung wird verwissenschaftlicht und internalisiert: Psychologie, Pädagogik und Fürsorge lösen Gefängnis und Kaserne ab." [11]

Lehrerbildung

Trotz des Scheiterns der Schulreformpläne der helvetischen Zentralregierung und der ab 1803 und mehr noch seit dem Wiener Kongress des Jahres 1815 auch in der Schweiz einsetzenden politischen Reaktion hielten die von Stapfer und anderen empfohlenen neuen Unterrichtsstoffe seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach und nach ebenfalls Einzug in die Schule.  Das Rechnen setzte sich endgültig als reguläres Schulfach durch.  Geschichte, technisches Zeichnen, Geographie und andere, auf diesseitigen Nutzen hin ausgerichtete Künste gewannen an Bedeutung und verdrängten allmählich das Psalmensingen, das Memorieren des Katechismus und das Buchstabieren biblischer Geschichten.

Es versteht sich von selbst, dass das Schulehalten unter diesen Umständen nicht mehr länger von einem invaliden Soldaten oder einem Schuster nebenher betrieben werden konnte.  Die ungleich höheren Anforderungen, welche die neue Schulart an die organisatorischen Fähigkeiten, das methodische Können, an die allgemeine Bildung und die (Selbst)-Disziplin des Lehrers stellten, machten eine wenigstens minimale Lehrerbildung auch im Bereich der gewöhnlichen Volksschule unumgänglich. Angeregt durch die Arbeit und die Schriften des österreichischen Abtes Ignaz Felbiger hatte Das Kloster St. Urban Pater Nivard Crauer deshalb bereits zu Beginn der 1780er Jahre mit der Durchführung von Weiterbildungskursen betraut, in deren Rahmen sich junge Lehrer und Geistliche in die theoretischen Grundlagen und die Praxis dieser neuen Unterrichtsmethode einarbeiten konnten. Die Neuerung scheint damals jedoch auf beträchtlichen Widerstand gestossen zu sein, sodass die Kurse bereits 1785 wieder eingestellt wurden. „die aristokratische Regierung in Luzem", so Carlo Jenzer dazu, „misstraute der Schulung der Landbevölkerung und befürchtete Aufstände; - einem Teil der Geistlichkeit missfiel der aufklärerische Geist; sie befürchtete Unftwe zur Kirche; die Landbevölkerung selbst, die Nutzniesserin, war widerspenstig." (Jenzer 268-69) Der Widerstand hatte allerdings keine weiterreichende Wirkung: In den folgenden Jahren richtete man an verschiedenen anderen Orten 4, 8 und 12wöchige Kurse für angehende oder bereits amtierende Lehrer ein, um sie mit den neuen Methoden vertraut zu machen.  Man versuchte durch die Veranstaltung von Lehrerkonventen die Zusammenarbeit und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter dem sich formierenden neuen Stand der Volksschullehrer zu fördern, und man setzte erfahrene Kreislehrer oder amtliche Schulinspektoren ein, um weniger gut qualifizierten Lehrern beizustehen oder sie zu beaufsichtigen. Zwar liess die Ausbildung der Volksschullehrer auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch viel zu wünschen übrig aber das Problem war erkannt und der politische Wille, in der Sache etwas zu tun, nahm zu. 1825 befasste sich die 15 Jahre zuvor gegründete Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft im Rahmen ihrer Jahresversammlung in Luzern mit dem Thema, wobei Pfarrer Wirz aus Zürich die damals üblichen Formen der Lehrerbildung in vier Kategorien einteilte. Diese reichten von dem, was wir heute als Anlehre bezeichnen würden, bis zur   seminaristischen Vollzeitausbildung, welche in der damaligen Schweiz allerdings noch ganz unüblich war. [12] Die Worte Johannes Steinmüllers, mit denen Wirz sein Luzerner Referat schloss, vermitteln einen Eindruck von dem naiven Enthusiasmus, mit dem man damals vorging: "Schullehrer-Unterricht ist reiner Gewinn für fortschreitende Verbesserung des Schulwesens; und bilden auch solche Anstalten zunächst nur die künftigen Lehrer, so bilden sie ja zugleich die zahlreiche Jugend, die diesen Lehrern einst anvertraut wird. Was du hier lehrest, das wiederhallt bald in diesen, bald in jenen Schulen; das dringt von hundert und hundert Lippen in den Verstand und die Herzen der Jugend aller kommenden Generationen, das wirkt mächtig und in unermesslichen Kreisen auf die Kultur und Moralität, sonderlich auf die der niedern Klassen des Volkes. Jene Lichtfunken, welche weise und geübte Lehrer in solchen Lehranstalten dem Verstande ihrer Zöglinge entlocken, sprühen weit und breit umher, und vereinigen sich in einem Lichtstrom, dessen wohltätige Strahlen ganze Länder erleuchten."[13]

Ausbau und Perfektionierung des Systems. 1830 bis 1900

Trotz der im Zuge von Aufklärung, politischer Liberalisierung und industrieller Revolution in Gang gekommenen Entwicklung stand es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach der Meinung vieler noch immer nicht gut um die Schweizer Volksschule. Noch fehlte es vielerorts an den Mitteln (und gelegentlich auch am Willen), den Schulbesuch notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, noch war die Ausbildung der Lehrer häufig ganz ungenügend und die finanzielle Situation der einzelnen Schulen ungesichert, noch gab es grosse Gebiete, ja ganze Landesteile, in denen es keine oder doch viel zu wenig Schulen gab, und noch immer waren die neuen Unterrichtsmethoden und die modernen Schulfächer an vielen Orten völlig unbekannt oder verpönt.[14] Dies änderte sich erst nach der Pariser Juli-Revolution des Jahres 1830. Nach langen Jahren der politischen Stagnation war es damals auch in der Schweiz zu Unruhen gekommen, und in einigen Kantonen wurden die konservativen Regierungen der Restaurationszeit durch fortschrittliche, demokratisch gesonnene Kräfte, durch Liberale und Freisinnige ersetzt.  Der seit Jahrzehnten geforderte Auf- und Ausbau einer zeitgemässen, obligatorischen Volksschule und die endgültige Trennung dieser Schule von der Kirche war eines der obersten Ziele der neuen Regierungen.  Schon bald (1831 im Kanton Waadt, 1832 im Kanton Zürich, 1835 im Kanton Aargau usw.) wurden die ersten diesem Ziel entsprechenden Schulgesetze erlassen.  Man begann überall mit dem Bau neuer Primar- und Sekundarschulen und gründete zahlreiche Lehrerseminarien, um die seit Beginn des Jahrhunderts praktizierten Formen der Lehreraus- und weiterbildung endlich durch eine mehrjährige Vollzeitausbildung zu ersetzen.[15] - Jetzt wurden auch die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen der Lehrer verbindlich geregelt, indem man die Ausübung des Lehrerberufes beispielsweise an den Erwerb eines staatlichen Lehrerpatentes knüpfte, und Bestimmung erliess über die Höhe des einem Lehrer zustehenden Gehaltes oder über die Zahl der von ihm zu erteilenden Lektionen.  Man kümmerte sich erstmals ernsthaft um die Entwicklung moderner Lehrmittel und die Bereitstellung geeigneten „Didaktischen Materials".

Auch die Schulpflicht wurde jetzt mit grosser Konsequenz durchgesetzt.  Der moderne, systematisch aufgebaute Unterricht, so wurde unter anderem argumentiert, erfordere einen regelmässigen, ununterbrochenen Schulbesuch.  Die Dauer der obligatorischen Schulzeit und die verlangte Mindeststundenzahl pro Schuljahr waren dabei von Kanton zu Kanton verschieden; häufig waren eine sechsjährige «Alltags-» und eine daran anschliessende dreijährige «Repetier-» oder «Ergänzungsschule» mit nur wenigen Stunden pro Woche.

Sebastian Brändli zeigt am Beispiel des Kantons Aargau, in welcher Weise die neuen Machthaber sich jetzt um das Problem des Schulbesuchs kümmerten. Dabei wird erneut deutlich, wie weit die disziplinierende Wirkung der modernen Schule reichte. Brändli schreibt: „Die rudimentäre Absenzenregelung 1822 wurde in den Schulgesetzen 1835 und 1865 weiterentwickelt.  Die Durchsetzung des Obligatoriums war während der ersten Jahrhunderthälfte ein Dauerproblem.  Unter dem Titel "Handhabung des Schulbesuchs" skizzierte das Schulgesetz 1835 in zwölf Paragraphen eine perfekte Ordnung. § 28 auferlegte dem Pfarramt die Aufgabe, ein Verzeichnis "aller schulpflichtigen Kinder" dem Lehrer, und von diesem dem Schulinspektor einzureichen. § 29 hielt fest, schulpflichtige Kinder "ohne genügende Ursache" dürften weder einzelne Stunden noch Tage noch längere Zeit von der Schule wegbleiben: "Als genügende Entschuldigungsgründe gelten nur Krankheiten und Nothfälle, die aber angezeigt oder erwiesen werden müssen." § 30 verpflichtete den Lehrer zur Führung der Absenzenliste; dieses "Verzeichnis der Versäumnisse" soll alle Monate der Schulpflege vorgelegt werden. § 31 gab der Schulpflege das Recht, "drei in einem Monate ohne genügende Entschuldigung versäumte halbe Tage nach Umständen mit Mahnungen und Verweisen zu ahnden." Grössere Abwesenheiten sollten an den Gemeinderat zur Bestrafung verzeigt werden (§ 32); dieser musste die fehlbaren Eltern "binnen vierzehn Tagen [...     ] zur Verantwortung ziehen"; das Strafmass war mit "drei bis sechs Batzen" bemessen, im Wiederholungsfall mit "sechs bis zwanzig Batzen", bei unvermögenden Eltern "vier bis zwölf Stunden Gefangenschaft"; die Strafgelder flossen in die Gemeindeschulkasse (§ 33). § 34 regelte weitergehende Verweigerungen: Gegen eine Person, die in einem Vierteljahr dreimal zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, konnte eine Gefängnisstrafe von 24 Stunden verhängt werden. § 35 verpflichtete den Gemeindeammann, ii@liiiiieti vierzehn Tagen" die ausgefällten Strafurteile des Gemeinderates zu vollziehen und darüber Bericht zu erstatten.  Der Bezirksschulrat schliesslich überwachte das Absenzenwesen durch ein "tabellarisches Verzeichnis" (§ 36), worauf dieser anfällig nicht vollzogene Bestrafungen dem Bezirksamtmann "zur Exekution" übergab (§ 37).  Sich "unwirksam erweisende" Fälle wurden beim Bezirksgericht anhängig gemacht.  Der Bezirksschulrat beaufsichtigte auch den Vollzug der Absenzenordnung durch die ihm unterstellten Behörden; er zog anfällig Fehlbare zur Verantwortung und zeigte sie in Wiederho-lungsfällen beim Bezirksgericht an, welches die Schuldigen beim ersten Mal mit einer Busse von vier bis sechs Franken, das zweite Mal von sechs bis zwölf Franken belegte; im Wiederholungsfall durften die Fehlbaren von ihren Stellen entsetzt werden; die Geldbussen wurden der Kantonsschulkasse zugehalten (§ § 3 8 und 39)."[16]

Natürlich ging diese Entwicklung nicht überall in genau derselben Weise und in demselben Tempo vor sich.  Während der Schulausbau im Kanton Zürich beispielsweise relativ schnell voranschritt, war die Umsetzung der entsprechenden Pläne im Kanton Bern trotz ähnlicher Ausgangslage offenbar beträchtlich schwieriger, so dass die Entwicklung dort im Vergleich mit anderen Kantonen erst später zum Tragen kam.  Noch prekärer war die Situation im Kanton Tessin, wo es bis zu Beginn der 1830er Jahre so gut wie keine Schulen gab.[17] Hie und da wurde die Entwicklung auch durch den direkten und indirekten Widerstand und das Desinteresse verzögert, auf den die Initianten und Befürworter der modernen Volksschule ausserhalb ihrer aufklärerischen Zirkel stiessen.

Im Verlauf der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stabilisierte sich die Lage. Die Schule, welche die einen aus Überzeugung, die anderen aus Eigennutz und Profitdenken gewollt oder abgelehnt hatten, war inzwischen mehr und mehr zu einem selbstverständlichen Bestandteil des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens geworden; ein Leben ohne diese Art von Schule erschien auch denen, die sie im Grunde nicht mochten, immer undenkbarer.  Die Meinung, dass die Schweiz in dem zunehmend härter werdenden internationalen Wirtschaftskampf ohne ein gut ausgebautes, leistungsfähiges Schulwesen nicht bestehen und ihren Platz auf den rasch wachsenden Weltmärkten nicht behaupten könne, hat dabei wesentlich zur Entstehung und zur Anerkennung der neuen Schule beigetragen.  Stille stehen, so sagten die Vertreter dieser Schule schon 1830, heisse auch hier rückwärts gehen.[18]

Nachdem die obligatorische Volksschule der Schweiz in den 1830er und 40er Jahren geschaffen und weitgehend durchgesetzt worden war, ging es ab 1850 – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern - vor allem darum, die höheren Schulen, die zahlreichen Real- und Mittelschulen, die Gymnasien, die Fort- und Weiterbildungs-, Berufs-, Fach- und Hochschulen lauter Schulen mit ganz verschiedenen, zum Teil weit in die Zeit des Ancien Régime zurückreichenden Traditionen - mit den neuen Primar- und Sekundarschulen zu verbinden und zu einem umfassenden, in sich stimmenden Schulsystem zusammenzufügen. Dabei musste die gegenseitige Abstimmung der Schulen innerhalb der einzelnen Kantone durch eine wenigstens minimale Koordination zwischen den Kantonen ergänzt werden.

Die Umwandlung des lockeren Staatenbundes der alten Eidgenossenschaft in den modernen schweizerischen Bundesstaat im Jahre 1848 hat diesen Prozess der gegenseitigem Angleichung beträchtlich beschleunigt.  Wenn die Volksschulen, d.h. die allgemeinbildenden Schulen der obligatorischen Schulzeit auch bis heute grundsätzlich Angelegenheit der Kantone sind, so wirkten bestimmte vom Bund in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erlassene Gesetze und Bestimmungen (etwa die Gesetze und Verordnungen, welche das Medizinstudium oder das Studium an den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich betreffen, direkt oder indirekt auch auf die Ausgestaltung und Weiterentwicklung der kantonalen Volksschulsysteme ein. [19] Ein gewisser Druck oder Ansporn ging auch von den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, einer Art internationaler technischer Leistungsschau, oder von dem Instrument der eidgenössischen Rekrutenprüfungen aus.[20]„Sowohl die interkantonalen (Pädagogische Rekrutenprüfungen) wie die internationalen Vergleiche (Weltausstellungen) können als politische Strategie der Radikalen gegen die "Rückständigen" gelten, um ihre Ideen durchzusetzen. (...). Sowohl die Pädagogischen Rekrutenprüfungen wie auch die im Rahmen von Weltausstellungen etablierte Bildungsstatistik hatte argumentativen Charakter.  Es waren nicht zufällig vor allem die Radikalen, die zu den Weltausstellungen fuhren und so die Legitimation ihrer Projekte extemalisierten. Beides, die Pädagogischen Rekrutenprüfungen und die Weltausstellungen, förderte die interkantonale und die internationale Dynamik im Sinne eines Wettbewerbes um das bessere Bildungssystem (und damit um die bessere Volkswirtschaft)." (Criblez u.a. (Hrsg.) 1999, S. 32)

Die Verfassungsreform des Jahres 1874, in deren Vorfeld man auch die völlige Übertragung der Volksschule in den Kompetenzbereich des Bundes diskutiert hatte, bildet gewissermassen den Abschluss der hier skizzierten Verstaatlichung der schweizerischen Volksschule. Sie setzte, so Criblez et al. 1999, „für das ganze Gebiet der Schweiz flächendeckend durch, was in den meisten Kantonen bereits realisiert war: genügender Primarunterricht, staatliche Leitung des Primarunterrichts, obligatorischer Primarunterricht, Unentgeltlichkeit des Primarunterrichts an den öffentlichen Schulen, konfessionelle "Neutralität" der Schule sowie das Sanktionsrecht des Bundes gegenüber Kantonen, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen."[21]

Die Vereinigung aller Einzelschulen zu einem zusammenhängenden, genau durchdachten Schulsystem machte eine weitere Standardisierung und Reglernentierung des in diesem System möglichen Lernens notwendig.  Immer umfangreichere Lehrpläne hielten jetzt fest, was die einzelnen Klassen in den einzelnen Fächern behandeln und wann welches Ziel erreicht werden sollte.  Obligatorische Lehrmittel sorgten für Einheitlichkeit im Detail.  Die regelmässige Messung der Schülerleistung durch bestimmte Tests oder Prüfungen wurde immer wichtiger.  Um die Leistung verschiedener Schüler miteinander vergleichen zu können, begann man sie überall zu «benoten».  Die damals in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts schnell wachsenden Schulverwaltungen legten jetzt verbindlich fest, wann ein Aufstieg in eine nächst höhere Klasse oder der Übertritt in diese oder jene weiterführende Schule möglich sei und wann nicht.  Schulzeugnisse gewannen zunehmend an Bedeutung. «Schlechte» oder keine Zeugnisse zu haben verunmöglichte oder erschwerte nicht nur die Karriere innerhalb des Schulsystems.  Abschlusszeugnisse, Ausbildungsbestätigungen, Diplome und Bescheinigungen aller Art wurden auch auf dem damals rasch wachsenden «Arbeitsmarkt» immer wichtiger.  In diesem Sinn war die Verbindung zwischen Schule und Arbeitswelt im Verlauf des 19.  Jahrhunderts ständig enger geworden.  Die Schule war also, so können wir zusammenfassend sagen, im Laufe von rund hundert Jahren von einer relativ belanglosen Einrichtung am Rande der Gesellschaft zu einer ihrer zentralsten Institutionen geworden.  Was von ihr anerkannt wurde, das galt.  Was sie nicht anerkannte, galt nicht.  Gleichzeitig hatte sich diese Einrichtung jedoch immer mehr zu einem Ghetto, zu einer künstlichen, von der Umgebung systematisch abgeschlossenen, isolierten Welt mit eigenen Gesetzen und eigener Realität entwickelt.  Diese Isolation, die in ihr herrschende allzu strenge Trennung zwischen Theorie und Praxis, Schule und Leben, erarbeiten» und « lernen», die zunehmende Reglementierung aller Aktivitäten, aber auch die Überbürdung der Schüler durch die stets wachsende Menge an Schulstoff und anderes waren denn auch Punkte, die damals immer heftiger kritisiert wurden.  Auch diejenigen, die der Schule im Grunde positiv gegenüberstanden, mussten immer mehr erkennen, dass diese Institution auch ihre Schattenseiten hatte.  Man hatte beim Aufbau des modernen Schulwesens doch von Mündigkeit und von Aufklärung gesprochen.  Stapfer hatte damals von «Glück» und von «Freiheit» geredet, und «Volksbildung ist Volksbefreiung» hatte man allenthalben rufen hören, als die alten Kantonsregierungen zum Rücktritt gezwungen und durch demokratisch gewählte Volksvertreter ersetzt worden waren. - Aber die Schulkasernen, die danach entstanden, und die tausend Reglemente und Verordnungen der neuen Behörden, war das wirklich «Volksbefreiung»? Diese bleichen Schülergesichter, diese leeren Blicke und der überall spürbare Widerwille gegen die neuen Schulen - die Bussgelder und Gefängnisstrafen, mit denen man die Eltern an ihre errungene «Freiheit» gewöhnen musste, war das der Weg zum versprochenen Glück? - Und die vielen Prügel, die Strafen, die Ängste der Schüler, war das die Pädagogik, für die sich Pestalozzi, Girard und all die andern eingesetzt hatten? Gewiss: Ohne Prügel lernen sie nichts, so sagte man, und: Zeig ihnen erst einmal, wer Herr im Haus ist, danach - wenn du sie fest in der Hand hast - kannst du die Zügel immer noch etwas lockern! - Aber: Prügel und Zügel und Herr im Hause, klang das nicht viel mehr nach Dressur und Unterwerfung als nach Freiheit und nach Erziehung zur Selbstbestimmung? - War dieses Stillsitzen und Gehorchen, dieses mechanische Hersagen von halb verstandenem, ziemlich willkürlich zusammengestückeltem Wissen tatsächlich die Art der Volksbildung, von der man am Ende des 18.  Jahrhunderts so wunderbare Dinge gesagt hatte? War das nun die Sonne, von der sich Tanner gewünscht hatte, dass sie auch in der Schweiz bis ins letzte Tal dringen möge?

SCHULREFORMBESTREBUNGEN UND STAATSSCHULKRITIK BIS 1940

Je mehr das Bildungswesen zum "perfekten" und damit wiederum vergewaltigenden System wurde, desto mehr nahmen auch die Kritik an dem System und die Versuche, alternative Schulformen zu entwickeln, zu. Kurz vor 1900 setzt eine Zeit ein, die bis vor wenigen Jahren allgemein als Zeit der "Reformpädagogik" bezeichnet wurde. Der Philosoph Friedrich Nietzsche u.a. kritisierten die konventionelle Schule und ihre Pseudoweisheit aufs heftigste. Hermann Lietz gründete, stark von englischen Vorbildern motiviert, 1898 sein erstes "Landerziehungsheim". Maria Montessori eröffnete 1907 das erste "Kinderhaus". Paul und Edith Geheeb, die späteren Gründer der Ecole d'Humanité (Hasliberg) eröffneten 1910 die in den 20er Jahren weltberühmte "Odenwaldschule". 1919 wurde, als Initiative der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, in Stuttgart die erste auf den Erkenntnissen und dem Menschenbild von Rudolf Steiner basierende Schule, d.h. die erste Waldorf- oder Steiner‑Schule eröffnet. In den 20er Jahren begann Celestin Freinet in Frankreich seine Ideen zu einer eigenständigen Pädagogik auszubauen. In München hat sich Georg Kerschensteiner schon seit Beginn des Jahrhunderts für Schulgärten, Schulwerkstätten und für die Verwandlung der staatlichen Schule von einer Buch- zu einer Arbeitsschule eingesetzt. In Berlin, Hamburg, Wien und an andern Orten wird das bisherige Schulsystem mit seiner sozial diskriminierenden Aufteilung in Gymnasium, Real- und Oberschule, mit dem bevormundenden Frontalunterricht, der traditionellen Fächeraufteilung etc. in Frage gestellt. Unter dem Schlagwort "Einheits-" oder "Lebensschule" werden nach dem 1. Weltkrieg grosse Reformen innerhalb der städtischen Schulen durchgeführt, Reformen, die allerdings in der 2. Hälfte der 20er Jahre ins Stocken geraten und weitgehend zurückgenommen werden. In den USA entsteht um John Dewey und Andere die "Progressive Education", die im Rahmen staatlicher und nicht-staatlicher Schulen ebenfalls kooperative Schulformen zu entwickeln versucht, in denen der Frontalunterricht durch Formen selbständigen Lernens und Forschens ersetzt wird. In Indien will der Dichter und Philosoph Rabindrana Tagore Santiniketan, eine im Jahr 1900 gegründete freie Schule zu einer Universität ausbauen, an welcher die Kulturen des Westens und des Ostens sich zu einer weltumspannenden Kultur der Menschheit und der Menschlichkeit vereinigen sollten. In Deutschland und in andern Ländern entsteht eine breite und starke Volkshochschul- und Volksbildungsbewegung mit teilweise sehr modern anmutenden pädagogischen Ansätzen und einem starken politischen und emanzipatorischen Willen. In Jena arbeitet Peter Petersen ab 1924 an einem besonderen, auch im Rahmen der staatlichen Schule praktizierbaren Modell, das in der Schweiz heute kaum bekannt ist, in Deutschland und mehr noch in Holland jedoch heute in zahlreichen "Jena-Plan-" oder "Peter Petersen-Schulen" verwirklicht ist. Eine der radikalsten Schulen jener Zeit ist das englische Summerhill, ein von A.S. Neill 1924 gegründetes kleines Internat, das in den späten 60er und den 70er Jahren zum Inbegriff der "antiautoritären Erziehung" wird.

Auch in der Schweiz entstehen reformpädagogische Schulen und Schulreformbewegungen, die wenigstens zum Teil noch bis in unsere Zeit hinein wirksam geblieben sind. Schon kurz nach der Jahrhundertwende kommt es zur Gründung einiger Schweizer Landerziehungsheime, in denen selbständige Arbeitsformen, Arbeit im Garten, in Werkstätten und Atelliers u.ä. besonders gefördert werden. 1902 nimmt das Landerziehungsheim Glarisegg (Steckborn) als erste Gründung seinen Betrieb auf. 1906 folgt Hof Oberkirch, 1907 Kefikon und Chailly (bei Lausanne)[22].

1910 eröffnen einige Eltern, ebenfalls in der Nähe von Lausanne, eine kleine Schule, in der sie die pädagogischen Ideen des ein Jahr zuvor hingerichteten spanischen Anarchisten und Schulgründers Francisco Ferrer zu verwirklichen versuchen[23]. In jenen Jahren fasst auch die Montessoripädagogik in einigen Schweizer Kantonen (Tessin, später Waadt, Genf u.a.) Fuss[24]. Mitte der 1920erjahre werden in Basel und Zürich die ersten beiden Rudolf Steiner‑Schulen gegründet[25]. Die lebendigste Stadt in Sachen Pädagogik dürfte damals jedoch Genf gewesen sein, wo Persönlichkeiten wie Pierre Bovet, Eduard Claparèd, Jean Piaget oder Adolphe Ferrière zahlreiche noch heute wirksame Reformimpulse gegeben haben[26]. Interessant ist auch, dass bereits zu Beginn der 1920er Jahre im Kanton Basel-Stadt ein Anlauf unternommen wurde, das längst zur Normalität gewordene staatliche Schulmonopol aufzuheben. Der Gesetzesentwurf, der die rechtliche und finanzielle Gleichbehandlung von Schulen in staatlicher und nicht-staatlicher Trägerschaft forderte und vor allem vom Verband evangelischer Schulen formuliert worden war, wurde von den Stimmbürgern damals zwar abgelehnt; als erster Schritt in dieser Richtung markiert er aber dennoch ein wichtiges Datum in der Schweizer Schulgeschichte, wenn wir diese unter dem Aspekt der Bildungsfreiheit betrachten[27].

Die Zeit des Faschismus und der 2. Weltkrieg bedeuteten das zumindest vorübergehende Ende der meisten dieser Reformansätze. Besonders abrupt war der Bruch naturgemäss in Deutschland, wo viele Reformschulen geschlossen oder "gleichgeschaltet" und ihre GründerInnen und MitarbeiterInnen ins Exil gezwungen wurden. Die in der Tradition von Hermann Lietz stehenden "Deutschen Landerziehungsheime", die Waldorf- und andere alternative Schulprojekte Deutschlands beugten sich zum Teil gezwungenermassen den neuen Machthabern oder begrüssten die Nationalsozialisten offen als Vollender der eigenen Reformgedanken[28]. Neben vielen andern engagierten Pädagoginnen und Pädagogen beschlossen damals auch Paul und Edith Geheeb ihre weltbekannte "Odenwaldschule" aufzugeben und in die Schweiz zu emigrieren, wo sie die heute auf dem Hasliberg beheimatete "Ecole d'Humanité" gründeten[29]. Maria Montessori lebte und arbeitete in jenen Zeit während Jahren in Indien.

Während zwischen 1925 und 1932 immer hunderte, ja tausende von pädagogisch engagierten Menschen an den Kongressen der "New Education Fellowship" (Weltbund für Erneuerung der Erziehung) und an anderen internationalen Kongressen teilgenommen hatten, waren es in den 30er Jahren noch einige Dutzend, die die internationale Zusammenarbeit fortzusetzen versuchten. In den Ländern, wo das politische Klima eine pädagogische Weiterarbeit im alten Geist noch zuliess, absorbierten die wirtschaftlichen Probleme der 30erjahre und der kurze Zeit später beginnende 2. Weltkrieg bald alle Kräfte.

EXKURS: ES IST NICHT ALLES GOLD, WAS GLÄNZT ... ZWEI KRITISCHE EINWÄNDE GEGEN DIE REFORMPÄDAGOGIK AUS HEUTIGER SICHT

Heute wird jene Zeit der Reformpädagogik hauptsächlich von zwei Seiten her in Frage gestellt. Sie wird einerseits als politisch naiv, wenn nicht sogar offen faschistisch und nationalistisch bezeichnet. Die Glorifizierung der Freiheit des Einzelnen, die Verherrlichung des Gefühlsmässigen, des Spürens und der Intuition und die Betonung des Lebens der (Volks)-Gemeinschaft und andere Dinge seien Elemente gewesen, die genau in die Gefühls- und Gedankenwelt der Nationalsozialisten gepasst oder sie noch mit aufgebaut haben. So wie es gefährlich ist, heute alles, was sich "alternativ" oder "freiheitlich" nennt, gut zu heissen und unkritisch zu bejahen, so sei es (und ich bin mit dieser Auffassung einverstanden) gefährlich und sachlich unrichtig, alle Reformansätze jener Zeit automatisch als gut und vorbildlich zu bezeichnen. Wenn man einzelne Reformbewegungen und einzelne ReformpädagogInnen anschaut, so sieht man allerdings, dass sie auf den Faschismus ganz unterschiedlich reagiert haben: Klare, eindeutige Kritik und Ablehnung gab es genauso wie begeisterte Zustimmung und Teilnahme an der grossen gesellschaftlichen Erneuerung, als welche der Nationalsozialismus sich zu Beginn darstellte und weit herum verstanden wurde. Die häufigste Reaktion war jedoch auch im Bereich der pädagogisch engagierten Menschen, das unentschlossene lavieren zwischen diesen beiden Möglichkeiten[30].

Die zweite einschränkende Kritik gegenüber einer besonders in Deutschland betriebenen idealisierenden Darstellung der Reformpädagogik besteht in dem simplen Argument, dass es eine solche Epoche gar nie gegeben habe, dass sie vielmehr ein Konstrukt der Geschichtsschreiber sei. Immer wo von Erziehung die Rede sei, treten auch Erziehungsreformer auf, und da wo es Schule gebe, gebe es auch Schulkritiker. Dies sei auch für das gesamte 19. Jahrhundert der Fall. Die Tatsache, dass wir die Reformer und Kritiker vor 1900 mit wenigen Ausnahmen heute nicht mehr kennen bedeute nicht, dass es sie nicht gegeben habe[31]. Diese Kritik fordert uns heraus, eine bestimmte geschichtliche Zeit nicht all zu schnell als belanglos zur Seite zu legen und konventionelle Deutungen bestimmter Epochen gegenüber misstrauisch zu sein.

-            Die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründeten bündnerischen "Philanthropine" und ihre Ansätze der Schülerselbstverwaltung und einer nicht nur intellektuellen Bildung

-            Johann Heinrich Pestalozzis Eintreten für einen "kraftbildenden", "anschaulichen" Unterricht und seine Kritik des holen Wortgeklappers in den meisten Schulen seiner Zeit,

-            Pater Gregor Girards um 1815 in Fribourg durchgeführte Versuche, den lehrerzentrierten Frontalunterricht durch das sozialere System des "wechselseitigen Unterrichts" zu ersetzen,

-            der in den 1820er Jahren in Aarau bestehende, freiheitlich organisierte "Lehrverein", eine Art alternativer Mittelschule,

-            I. Troxlers in jenen Jahren geführter Kampf für ein kirchen-und staatsunabhängiges Bildungswesen,

-            J. Gotthelfs in den 1830er und 40er Jahren an vielen Stellen geäusserte scharfe Kritik an der Dummheit und Geistlosigkeit des modernen Schulbetriebes,

-             das entschiedene Eintreten von Heinrich Bachofner für ein aus freien Schulgemeinden bestehendes staatsunabhängiges Bildungswesen im Sinne Dörpfelds und seine Gründung des freien evangelischen Seminars Untersträss in Zürich (1869/70) sowie ähnlich motivierte Schulgründungen in andern Kantonen

-            die von Friedrich Beust in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts betriebene Schule in Hottingen bei Zürich und seine Reformansätze oder

-            der um 1880 unternommene (und gescheiterte) Versuch des sozialdemokratischen W. Klein, damals Basler Erziehungsdirektor, das ungerechte und unsoziale dreigliedrige Schulsystem in eine Art einheitliche Volksschule zu verwandeln

sind einige aus der Schweizer Schulgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zusammengetragene Hinweise, die bestätigen, dass Menschen auch schon vor der Zeit, die wir heute als "reformpädagogische Bewegung" bezeichnen, kritisch und differenziert über die Schule nachgedacht und intensiv nach alternativen Schulformen gesucht haben. Es sind zugleich Einstiegsmöglichkeiten in heute weitgehend vergessene Bezirke unserer Schul- und Bildungsgeschichte [32].

DIE ENTWICKLUNG DES STAATLICHEN UND DES FREIEN SCHULWESENS DER SCHWEIZ SEIT DEM 2. WELTKRIEG

Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts bis in die 60erjahre hinein hat sich die äussere Form des schweizerischen Schulwesens kaum mehr verändert. Zwar war die zuvor noch selbverständliche Prügelstrafe allmählich aus unseren Schulen verschwunden und einige der reformpädagogischen Ideen (Fächerübergreifender Projektunterricht, SchülerInnenmitbestimmung oder Selbsttätigkeit im Unterricht u.ä.) haben den innern Betrieb der Schule hie und da zu verändern begonnen. Die Organisation des Gesamtsystems der staatlichen Schulen gerät jedoch erst in den 60erjahren wieder in Bewegung. Ausgelöst durch den Start der ersten sowjetischen Sputnik-Rakete im Jahr 1957 wurde damals, vor allem in den USA, in abgeschwächter Weise aber auch in der Schweiz und andern westeuropäischen Ländern der Ruf nach einer leistungsfähigeren Schule laut. "Mehr Bildung für mehr Menschen", "Ausbau des Mittelschul- und Universitätsbereichs", "Begabtenförderung", Lehrplanreformen und effizientere, wissenschaftlich fundierte Unterrichtsmethoden ("programmierter Unterricht", Ausschöpfung der "Begabungsreserven", "lernzielorientierter Unterricht") waren die Schlagworte und die Anliegen der zu Beginn der 60erjahre geforderten "Bildungsoffensive". Auf dem Hintergrund des zunehmenden Protests gegen den Vietnamkrieg und sich zuspitzender Rassenunruhen in den USA nahm während der 1960er Jahre zugleich auch die Kritik am bestehenden Gesellschaftssystem zu. In Bezug auf die Schule wurde jetzt in den USA und Europa nicht mehr einfach ein Ausbau – also "mehr vom selben" – sondern eine prinzipielle Veränderung verlangt. "Chancengleichheit" und "emanzipatorische Erziehung" waren wichtige Begriffe dieser von der linken Studentenbewegung getragenen Schulkritik der späten 1960er Jahre. Sie führten im Bereich der staatlichen Schule der BRD zu einer breiten Gesamtschulbewegung, in welcher viele der Initiativen der 19020er Jahre wieder aufgenommen und zu Ende geführt wurden. In zahlreichen Schweizer Kantonen wurden ähnliche, mehr oder weniger weitreichende Strukturreformen diskutiert und in Angriff genommen. Ein sehr weitgehender staatlicher Schulversuch war in diesem Zusammenhang die "Gesamtschule Dulliken" (Kanton Solothurn), die bis zu ihrer umstrittenen Schliessung 1980 immer wieder zum Gegenstand heftiger, auch in der Öffentlichkeit geführter Debatten wurde. Man wollte überall durch die Einführung von "Beobachtungs-" oder "Orientierungsstufen" und ähnliche Massnahmen die auch hierzulande zunehmend als problematisch empfundene zu frühe und zu endgültige Aufteilung der SchülerInnen auf die verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe I (Real- und Sekundarschulen, Bezirksschulen, Gymnasien etc.) etwas hinausschieben und flexiblere Übergangsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Schulen schaffen. In einer Reihe von Kantonen kam es im Laufe der letzten 20 Jahre zu Abstimmungen über entsprechende Schulreformprojekte, wobei diese zum Teil angenommen (Tessin, Fribourg, Genf u.a.), zum Teil abgelehnt wurden (Solothurn u.a.). Einige Kantone haben beschlossen, die ins Auge gefassten neuen Strukturen vorerst im Rahmen von örtlich und zeitlich beschränkten Schulversuchen (zB dem bereits erwähnten Versuch in Dulliken, aber auch Manuelschule in Bern oder AVO-Schule im Kanton Zürich wären zu erwähen) zu erproben. Wenn man die in den letzten Jahren in den einzelnen Kantonen verwirklichten Reformen überblickt so zeigt sich ein zwar mässiger, aber doch spürbarer Trend hin zu offeneren Schulstrukturen mit mehr Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schultypen und mehr Möglichkeiten der inneren Differenzierung (NIveau und Wahlfachkurse, Arbeitsgemeinschaften, Projektwochen usw).

Neben diesen von traditionellen linken Parteien und Gruppierungen vorangetriebenen Reformen, gab es auch Initiativen und Diskussionen, die politisch gesehen eher als anarchistisch individualistisch oder bürgerlich liberal bezeichnet werden müssen. Es waren Initiativen, die nach einem "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und (Staats)-Sozialismus suchten. Bücher wie A. S. Neill's "Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung" oder (etwas später) E. Reimers "schafft die Schulen ab" und Iwan Illichs "Die Entschulung der Gesellschaft" wurden vor allem in diesem Segment der Schul- und GesellschaftskritikerInnen zu Kultbüchern; sie dominierten die pädagogischen Diskussionen der 1970er Jahre.

Das wiedererwachte Interesse an pädagogischen Fragen brachte gegen Ende der 60erjahre auch frische Bewegung in die Landschaft der freien und alternativen Schulen der Schweiz. Die weiter oben erwähnten Landerziehungsheime, die noch bis in die 30erjahre hinein pädagogische Pionierarbeit geleistet hatten, waren entweder inzwischen eingegangen oder sie hatten sich in kommerziell orientierte, traditionelle Internate, Sprach- und Handelsschulen verwandelt. Die Montessoripädagogik hatte in der Schweiz der 1960er Jahre ebenfalls beinahe keine (praktische) Bedeutung mehr. In Kreisen der Zürcher Flüchtlings-und Emigrantenszene kam es in den 30er Jahren zu einem (sozialistischen) Schulexperiment, von dem Franca Magnani in ihrem Buch "Eine italienische Familie" berichtet[33]. Sowohl dieses Experiment wie auch die pädagogischen Initiativen von $Jean Begert - die ?Lommbachschule - oder die ?Vallamanschule von ?Rudolf ?Müller haben den Lauf der offiziellen Pädagogik kaum berürht und sind heute fast völlig vergessen.

Die alten und einige neue Steinerschulen (darunter auch das 1953 gegründete Schlösslein in Ins), die Ecole d'Humanité und einige wenige andere Schulen (so etwa die zu Beginn der 1960er Jahre gegründete JolimontSchule von David Tillmann) waren noch um 1970 praktisch die einzigen Alternativschulen unseres Landes. Dann setzte ein Boom von Schulgründungen ein, der bis heute andauert. Die Zahl der Rudolf Steinerschulen hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als versechsfacht (5 Schulen 1970, ca. 35 Schulen 1992). In der selben Zeit wurden auch eine ganze Anzahl von Montessorikinderhäusern (meist für für 3 bis 7-jährige) eröffnet. Zwischen 1982 und 1987 kam es dann in Basel, Bern, Nuolen, Zürich und Luzern zur Gründung von 5 Montessori-Primarschulen[34].

Die bereits lange Tradition und das differenzierte pädagogische Fundament der alten Reformschulen, welches diese für die Einen so anziehend machte, wurde von Andern im Gegenteil als Belastung und Einengung empfunden. Sie wollten ihre Schule in ganz freier Weise so gestalten, wie es ihnen auf Grund ihrer Erfahrungen und Überlegungen und auf Grund der jeweils gegebenen Situation am richtigsten schien. Man wollte weder vom Staat, noch von irgendwelchen anderen Autoritäten - ganz gleich ob sie nun Geheeb, Steiner oder Montessori hiessen - abhängig sein. Dieser Philosophie entsprechend hatten Eltern und LehrerInnen in New York und andern Städten der USA bereits mitte der 60erjahre mit der Gründung kleiner, selbstverwalteter "Free-Schools" begonnen. Im Anschluss an die Auseinandersetzungen der späten 60erjahre entstanden in Deutschland und der Schweiz von Eltern selbst finanzierte und verwaltete antiautoritäre Kindergärten, "Kinderläden" und Spielgruppen. 1972 wurde in Effretikon unter dem Namen A-1 (Alternativschule 1) die erste "free school" oder "freie (Volks)-schule" der Schweiz eröffnet. Im Frühjahr 1973 folgten die im Verein "Freie Volksschulen im Kanton Zürich" zusammengeschlossenen freien Volksschulen in Zürich‑Trichtenhausen, Oberglatt, Baden und Affoltern. Gleichzeitig eröffnete auch die auf denselben pädagogischen und politischen Ideen beruhende Ecole Active Barigoul in Genf ihre Tore. Damit hatte sich eine neue Schulgestalt zu den alten reformpädagogischen Modellen gesellt, eine Schulgestalt, die es so bis anhin noch nicht oder doch nur ansatzweise gegeben hatte - ansatzweise deshalb, weil auch Paul Geheeb, Rudolf Steiner oder Maria Montessori - genau wie die Gründer und Gründerinnen der ersten freien Volksschulen - immer wieder betont hatten, dass jede Schule von den Beteiligten ständig in Frage gestellt und neu "erfunden" werden müsse, wenn sie lebendig bleiben wolle. Inzwischen bestehen in der Schweiz ein rundes Dutzend "freier Volksschulen", sowie einige diesen nahe stehende Alternativschulen. Von ihnen soll im folgenden Kapitel die Rede sein.

Die Bewegung der Freien Volksschulen und verwandter Initiativen von 1972 bis 1992

Nach einigen Inseraten in der Tagespresse treffen sich im Frühjahr 1972 im Landhuus Seebach, Zürich, gegen 200 Menschen, um über die Gründung einer Alternativen Schule zu diskutieren. Chaotisch sei es gewesen, erzählen G. und A. Latzel. Diejenigen, die zu Wort gekommen seien, hätten zuerst einmal ausgiebig über die unmögliche Staatsschule geflucht. Bald habe man beschlossen, sich in Regionalgruppen aufzuteilen: Linkes Zürichseeufer, rechtes Zürichseeufer und Zürich Nord. Dort habe dann die konkrete Arbeit begonnen: Klärung der Ideen und Anliegen, Entwicklung eines Schulkonzeptes, Kontaktaufnahme mit Behörden, Haussuche. - Sie selbst hätten ihre Alternative ursprünglich ja lieber im Rahmen der staatlichen Schule verwirklicht - als Versuchsklasse innerhalb der Primarschule ihres Wohnorts. Ein entsprechender Antrag sei jedoch nach einem längeren Hin und Her abgelehnt worden: für einen solchen Schulversuch bestehe kein Bedarf.

Zur selben Zeit hatte sich auch in Genf eine Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen zusammengefunden, die ausserhalb der Staatsschule eine "Schule der Selbsttätigkeit" - eine "Ecole Active" - gründen wollten. Auch hier war das Interesse der Öffentlichkeit gross: "Wir haben ein paar Inserate gemacht und ein Treffen angekündigt, und schwups-, unsere Schule war voll", erzählt J.C.Bres, noch heute Lehrer an der Ecole Active Barigoul in Genf. "Es war damals eine grosse Spannung in der Luft, eine richtige Aufbruchsstimmung. Damals, nach 68 gab es viel Optimismus und eine grosse Lust auf Veränderung. Wir wollten die Schule ganz selber machen. Alle sollten beim Aufbau ihrer Schule mit dabei sein! Basisdemokratie, das war damals die grosse Sache! Da sassen wir dann - 60 oder 80 Menschen - und haben geredet und geredet, Nächte lang! Anstrengend war das aber auch toll!"

Nach den turbulenten Anfängen im Frühjahr wird in Zürich, im September 1972, die Vereinigung "Freie Volksschuel im Kanton Zürich" (FVZ) gegründet. In einem Flugblatt aus jener Zeit heisst es über die Motive und die Zielsetzungen dieser Gründung u.a.: "Die FVZ würdigt die Verdienste und Erfolge des Volksschulsystems der vergangenen 100 Jahre. Sie hält jedoch die zentralistisch verwaltete und durch eine stetig wachsende Bürokratie zunehmend von der Elternschaft isolierte Staatsschule für nicht mehr zeitgemäss und vor allem für unfähig, die notwendigen Veränderungen des Schulssystems aus eigener Kraft durchzufürhen. Die FVZ wurde aus der Überzeugung gegründet, dass konkrete Alternativen geschaffen werden müssen, um das staatliche Schulsystem aus seiner Erstarrung zu lösen." "... Im Unterschied zu den Reformschulen früherer Jahrzehnte, die von bedeutenden Einezlpersönlichkeiten gegründet und getragen wurden, will die FVZ kein festes pädagogisches Konzept anbieten. Es geht ihr nicht darum, den von der staatlichen Schule enttäuschten Eltern ein fertiges Schulmodell hinzustellen, im Gegenteil sieht die FVZ das entscheidende Moment der gegenwärtigen Reformbestrebungen in der Eigeninitiative und aktiven Aufbauarbeit der Elternschaft: Gemeinsam mit den von ihnen frei gewählten Lehrern und pädagogischen Mitarbeitern bauen die in der FVZ zusammengeschlossenen Eltern Schulen nach ihren eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Erkenntnissen auf und begeben sich ihrerseits dadurch in einen steten Lernprozess." Damit ist der Kerngedanke der freien Volksschulen formuliert: Schule selber machen - an Hand eigener Erfahrungen, eigener Ideen und Vorstellungen!

Im Frühjahr 1973 wird - nach relativ kurzer Vorbereitung - in Affoltern a.A., in Zürich-Zollikerberg, in Oberglatt und in Baden (später Mägenwil, heute Lenzburg) eine Freie Volksschule eröffnet. Zur selben Zeit nimmt die Ecole Active Barigoul ihren Betrieb auf. Mit 72 SchülerInnen (inklusive Kindergarten) ist sie die grösste der 5 neuen Schulen. Sonst lagen die SchülerInnenzahlen zwischen 15 und ca. 50 SchülerInnen pro Schule, eine noch heute geltende Zahl.

1974 wird die im April 1972 in Effretikon eröffnete, anfangs 1973 nach Winterthur umgezogene "A 1" (Alternativschule 1) nach langen Verhandlungen und gegen den Willen der meisten Eltern wegen "zu geringer Leistungen" von der Zürcher Regierung geschlossen. Die A1 scheint zu den 4 übrigen freien Volksschulen im Raum Zürich ein eher distanziertes Verhältnis gehabt zu haben. Insbesondere die Art und Weise, wie die A1 gegenüber Behörden aufgetreten sei, habe die eigenen Behördenkontakte nicht gerade gefördert, erzählt A. Seiler, Mitbegründer der FVZ. Die 4 verbleibenden Freien Volksschulen im Raum Zürich und die Ecole Active in Genf funktionieren nun ein Jahr. Der Schritt von der Kritik zur Alternative erweist sich in allen Schulen als schwierig.

1975: In Genf wird in looser Verbindung mit der Ecole Active eine erste Klasse (Einheit) der UES (Unité d'Enseignement Secondaire) eröffnet. Man plant jedes Jahr eine neue Einheit an einem andern Ort der Stadt zu gründen. Jede Einheit soll von 4 bis 6 LehrerInnen während 3 Jahren (7. bis 9. Schuljahr) betreut werden. Die LehrerInnen haben die Gelegenheit in dem freieren Rahmen der UES zusammen mit Eltern und SchülerInnen eine Pädagogik zu verwirklichen, die sie in den staatlichen Schulen nicht verwirklichen können. Neben ihrer Arbeit in der UES sollten sie wo möglich weiterhin in der staatlichen Schule unterrichten und nach 3 Jahren wieder ganz in diese zurückkehren, um ihre Erfahrungen gezielt in das Genfer Schulsystem einbringen zu können. Die nacheinander entstehenden Einheiten arbeiten an sich selbständig, stehen untereinander jedoch in Verbindung. Im Laufe der Zeit geht die angestrebte enge Verflechtung mit der Staatsschule verloren. Zu Beginn der 80er Jahre wird die letzte Einheit der UES eröffnet; drei Jahre später hört die Schule zu existieren auf.

1976: Nach der Auflösung einer Genfer Privatschule beschliessen einige ihrer ehemaligen SchülerInnen und LehrerInnen ihre eigene Schule zu gründen: die einen, um ihr Ausbildung abschliessen, die andern, um weiterhin ihr Geld verdienen zu können. Es entsteht die Mutuelle d'Etudes Secondaires (MES), ein freies, von LehrerInnen und SchülerInnen gemeinsam geführtes Gymnasium, in dem sich Jugendliche und junge Erwachsene mit abgeschlossener obligatorischer Schulpflicht auf das Bacalaureat International vorbereiten können. Durch das der Schule zu Grunde liegende Prinzip der Selbstverwaltung steht die MES den freien Volksschulen innerlich nahe, wenn sie auch keine Freie Volksschule im engeren Sinn des Wortes ist. [35]

Im Jahr 1978 nimmt die Freie Volksschule Bern ihren Betrieb auf. Im Dezember 1980, 2 1/2 Jahre nach Schulbeginn, auf dem Höhepunkt einer seit längerem andauernden Krise kündigt das gesamte LehrerInnenteam. Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den Eltern, zu viele "Probleminder" und zu gegensätzliche pädagogische Positionen werden als Gründe angegeben. 39 der 55 Kinder werden daraufhin von ihren Eltern auf das Ende des Schuljahres abgemeldet. Nachdem man die Schule zuerst schliessen will entscheiden sich die verbleibenden Eltern zusammen mit dem Trägerverein im Februar, es noch einmal zu versuchen. 1984 muss die Freie Volksschule Bern "trotz guten internen Funktionierens" ihren Betrieb auf Grund finanzieller Schwierigkeiten einstellen. Zu der von einigen erhofften Wiederaufnahme des Betriebes nach einem Jahr ist es nicht gekommen.

1979 wird in Zürich von einigen wenigen Interessierten die "freie Orientierungs- und Mittelstufe" (O+M) eröffnet. Die schon seit einem Jahr als "Privatunterricht" geführte Schule ist als Fortsetzung der nur die ersten 6 Schuljahre umfassenden Zürcherischen Freien Volksschulen gedacht. Die O+M sollte, so das Konzept, nach und nach zu einer schultypenübergreifenden "Gesamtschule" ausgebaut werden, in der in freier Weise auf eine Berufslehre, auf eine eidgenössische Matur oder auf ein anderes Schulziel hingearbeitet werden kann. 1981 - nach 2-jährigem Betrieb - wird die O+M wegen zu geringer Nachfrage geschlossen. Die ungeeigneten Räumlichkeiten und das spürbar konservativer werdende gesellschaftliche Klima, sowie das unklare Konzept der O+M und ihre mangelnde Verbundenheit mit den Zürcher Freien Volksschulen, die generelle Überschätzung des Interesses der Eltern an diesem Reformmodell werden rückblickend als einige der Ursachen für die geringe Attraktivität der Schule genannt.

1979 nehmen auch die "unabhängige Volksschule Alttoggenburg" mit 5 und der "Espace du Loup" mit ca. 15 SchülerInnen ihren Betrieb auf. 1982 oder 83 zieht die stark anthroposophisch orientierte unabhängige Volksschule Alttoggenburg" nach Wil um. Sie nennt sich jetzt "Freie Volksschule Wil".

1979-80 kommt es zur Spaltung der Ecole Active in Genf. Ein Teil der Eltern und der LehrerInnen halten das der Schule zu Grunde liegende auf Basisdemokratie und umfassender Eltern- und SchülerInnenmitbestimmung beruhende Prinzip der Selbstverwaltung für gefährdet. sie verlassen die Schule und gründen die Ecole Active Chêne-Bourg. Der Konflitk zwischen den "Realos" der Barigoul und den "Fundis" der neuen Schule in Chêne-Bourg (einem Genfer Vorort) legt sich jedoch bald, und es entwickelt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den beiden Schulen.

Nach jahrelangen Diskussionen wird im Frühjahr 1982 die Freie Volksschule Basel eröffnet. Im Selben Jahr nimmt die Weinlandschule in Pfungen (Nähe Winterthur) ihre vorerst als Privatunterricht deklarierte Arbeit auf. Zugleich schläft die in den 70er Jahren ziemlich aktive Vereinigung "Freie Volksschule im Kanton Zürich" allmählich ein; die Verbindung zwischen der freien Volksschulen im Raum Zürich ist ziemlich schwach geworden.

Im August 1983 wird in Stans die freie Volksschule Nidwalden eröffnet, nachdem schon seit einiger Zeit eine Spielgruppe und ein Kindergarten bestehen. In La-Chaux-de-Fonds nimmt die Ecole de la Grande Ourse mit 7 Kindern ihre Arbeit auf. Bereits ein Jahr später eröffnet die Ecole de la Grnade Ourse als eine der ersten freien Volksschulen der Schweiz eine eigene Oberstufe.

Im Frühjahr 1987 wird in Basel nach sorgfältiger Vorbereitung ein von SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam geführtes freies Gymnasium eröffnet. Es wird nach der letzten, in der Schweiz als Hexe verurteilten und verbrannten Frau "Anna Göldin Gymnasium", AGG, getauft. Es steht Allen offen, die ihre Schulpflicht hinter sich haben und sich in diesem Rahmen auf die eidgenössische Maturität vorbereiten oder sich in freier Weise weiterbilden wollen. Im Laufe der ersten zwei Jahre zeigt es sich immer deutlicher, wie schwer es ist, freies, an eigenen Interessen orientiertes Lernen und gezieltes Arbeiten für die Maturität im Rahmen einer (zudem noch relativ kleinen) Lerngruppe zu verwirklichen. Nach und nach steigen die SchülerInnen, die an einer Matur nicht interessiert sind, aus. Im September 91 bestehen die ersten 6 von 7 AbsolventInnen des Anna Göldin Gymnasiums die eidgenössische Matur. Zugleich hielt die "zweite Generation" von Lernenden Einzug in das AGG.

Im April 1987 wird die Montessori-Schule March (ehute Sibnen) eröffnet. Obschon ihrem Namen nach nicht ausdrücklich eine "freie Vjolksschule" versteht sie sich doch - was die Beteiligung der Eltern und die demokratischen Leitungsstrukturen angeht - als solche.

Im August 1987 nimmt die freie Volksschule Luzern (FVL) mit 21 Kindern ihre Arbeit auf. Ihr folgen die freie Volksschule Aarau (FVA) um 1988, die freie Volksschule Soloturn (FVS) 1989 und die Taminaschule in Malans.

Im Mai 1986 trafen sich ca. 30 Personen aus dem Kreis der freien Volksschulen und anderer Reform- und Alternativschulen der Schweiz zum 1. Schweizer Alternativschultreffen. Es folgten weitere Treffen auf der Beguttenalp bei Aarau (1987), in den Räumen der Freien Volksschule Basel (1988), im Schlössli in Ins (1989), in la Chaux-de-Fonds als Gäste der Ecole de la Grande Ourse (1990) und wiederum in Luzern (1991). Auf Grund des an diesen "offenen" Treffen öfter geäusserten Bedürfnisses nach vermehrter Zusammen-und Weiterarbeit auch während des Jahres gründeten ca. 12 freie Schulen sowie einige Einzelpersonen im November 1990 (im Rahmen des 5. Alternativschultreffens) die Vereinigung der freien Schulen der Schweiz bzw. die Association Suisse des Ecoles Nouvelles, VFSS/ASEN.

Die meisten freien Volksschulen sind heute nicht mehr das, was die ersten Schulen der Bewegung zu Beginn der 1970er Jahre einmal sein wollten. Während die Einen diese Entwicklung bedauern, begrüssen Andere sie als Zeichen einer gesunden Anpassung an eine veränderte Umgebung oder als Ergebnis eines schulinternen Lernprozesses. Um uns klarer darüber zu werden, was im Laufe der letzten Jahre tatsächlich geschehen ist und was im Bereich der freien Volksschulen heute geschieht, möchte ich im folgenden kurz einige Merkmale nennen, die mir typisch scheinen für die Entwicklung der meisten Schulen und der Bewegung insgesamt; es sind Tendenzen, die ich zum Teil als durchaus problematisch empfinde und auf die eine engagierte "Alternativschulvereinigung" im Grunde reagieren müsste:

-            Relativierung des Grundsatzes der Basisdemokratie: Die Idee der Basisdemokratie und die kritische Haltung gegenüber festen organisatorischen Formen ist zu gunsten klarer Kompetenz- und Arbeitsaufteilungen in den Hintergrund getreten.

-            Verminderung des Einflusses der Eltern im pädagogischen Bereich: Die Mitbestimmung im pädagogischen Bereich durch die Eltern wurde in den meisten Fällen zurückgebunden oder ganz aus dem Schulkonzept gestrichen. Ähnlich wie dies in den Rudolf Steiner, den Montessori- und andern reformpädagogischen Schulen üblich ist, sind Entscheidungen im Bereich der Unterrichts- und Erziehungsarbeit inzwischen auch hier in erster Linie Sache der in der Schule tätigen Lehrer und Lehrerinnen. Dies kann als "Rückschritt" verstanden werden; es kann jedoch auch Ausdruck eines grösseren Vertrauens zwischen Eltern- und LehrerInnenschaft sein. In der Praxis führt diese Art der "Kompetenzverteilung" häufig zu einer Entlastung auch der Eltern.

-            Abkehr vom Prinzip einer "antiautoritären Erziehung": Bereits mitte der 70erjahre wandte man sich auch im Bereich der freien Volksschulen mehr und mehr von der anfänglich sehr einflussreichen Idee der "antiautoritären Erziehung" im Sinne A. S. Neill's ab. Der Versuch, den Kindern keine Grenzen mehr zu setzen, von ihnen nichts mehr zu verlangen und zu fordern, um ihnen damit eine ganz freie Entwicklung zu ermöglichen, führte, so stellte man immer klarer fest, zu Verwöhnung und Verwilderung bei den Kindern und zu Selbstaufgabe und Enttäuschung bei den Erwachsenen. Man betonte jetzt vor allem den partnerschaftlichen Dialog zwischen den Erwachsenen und den Kindern als Grundlage der Erziehung.

-            Mehr Strukturen im Unterricht: Auch im Bereich des Unterrichts ist man von der zu Beginn der 70erjahre gewollten und erprobten grossen Offenheit und Freiheit - dem "ihr müsst wissen, was ihr wollt ..." - zu klareren Strukturen zurückgekehrt. Dabei spielen reformpädagogische Ansätze (Freinet, Montessori, Waldorf), Projekt- und Werkstattunterricht eine relativ grosse Rolle.

-            Keine pädagogischen Aussenseiter mehr: Die freien Volksschulen sind in der Schweiz heute nicht mehr in dem Mass pädagogische Aussenseiter wie sie dies in den 70erjahren waren. Sie werden von der IV und Sozialämtern etc. heute meist als Teil unseres Bildungswesens anerkannt, arbeiten zum Teil im Bereich der offiziellen Lehrerbildungsinstitutionen mit etc.

-            Das Angebot der freien Volksschulen wird allmählich "normal": Besonders im Bereich der Primarschule sind die freien Volksschulen heute vielleicht nicht mehr etwas so besonderes, wie sie es vielleicht gerne wären. Durch die in vielen Kantonen im Laufe der letzten 15 ahre vollzogene Abschaffung der Noten während der ersten Primarschuljahre, durch vermehrt individualisierende Arbeitsformen in der Schule, durch einen merklich veränderten Umgangston zwischen LehrerInnen und SchülerInnen und eine zumindest teilweise spürbare Veränderung der Beziehungen zwischen Schule und Eltern, durch die allmählich in Gang kommende Eröffnung staatlicher Tagesschulen im Primarschulbereich u.a.m. verlieren die freien Volksschulen allmählich ihren "Vorsprung" auf die staatlichen Schulen.

-            Von der Alternativ- zur Sonderschule: Eine ganze Reihe von Freien Volksschulen definieren sich heute bewusst als Schule für lernbehinderte oder verhaltensauffällige Kinder oder als Sonderschule anderer Art. Die freie Volksschule Oberglatt hat diesen Schritt um 1985 vollzogen; die freien Volksschulen in Affoltern oder in Lenzburg taten dies zwischen 1988 und 1990. Damit nahmen diese Schulen klar Stellung zu einem "Problem", das im Grunde alle Alternativschulen betrifft. Statt als pädagogische Alternative werden diese Schulen häufig als Alternative zur "Hilfsschule" oder zum Sitzenbleiben gewählt. Ja zum Teil scheint man sich geradezu zu erhoffen, dass Alternativschulen (ihrer besonderen Methoden und individuellen Strukturen wegen) bessere Schulen sind als die von Ausländerkindern überschwemmten, altmodischen Schulen des Staates.

-            Von der Freien zur Privaten Volksschule: Während differenzierte Abstufungen in der Höhe des Schulgeldes oder das System der Selbsteinschätzung und ähnliche Formen zu Beginn der Bewegung selbverständlicher Grundsatz waren, scheint heute eine Tendenz zu festen Schulgeldregelungen und eine Abkehr von "Sozialtarifen" etc. vorzuherrschen. Zugleich scheinen die Löhne der MitarbeiterInnen der Schulen mehr und mehr den branchenüblichen Löhnen zu entsprechen. Die früher üblichen weit unter den "normalen" Ansätzen liegenden LehrerInnenlöhne u.ä. scheinen heute nicht mehr selbverständlich oder (besonders bei Familien-ErnährerInnen) nicht mehr praktikabel. Man scheint allgemein eher komerziell zu denken und längerfristig zu planen.

-            Vom allgemeinen, politischen, zum konkreten pädagogischen Engagement: Eltern und LehrerInnen setzten sich zu Beginn der Bewegung der freien Volksschulen in erster Linie aus grundsätzlichen, gesellschaftlichen und politischen Motiven für eine freie Volksschule ein. Heute geht es dagegen viel eher um ganz konkrete Anliegen und Vorstellung oder um die Lösung ganz individueller pädagogischer (Not)-Situationen.

Beim genaueren Nachdenken komme ich zum Schluss, dass es eine Bewegung der Freien Volksschulen in der Schweiz im Grunde nur ganz kurz - zu Beginn der 1970erjahre - gegeben hat. Heute gibt es nur noch ganz wenige freie Volksschulen (die FV Solothurn, die Ecole de la Grande Ourse und ???), in denen das ursprüngliche politische Bewusstsein und Anliegen noch wach ist, und man sich als Teil einer breiteren politisch-pädagogischen Emanzipationsbewegung versteht. Wenn wir heute von einer Bewegung der freien Volksschulen oder von "den Freien Volksschulen der Schweiz" sprechen, so sprechen wir von einem nicht existierenden Gebilde, einem Produkt unserer politischen und pädagogischen Träume und Sehnsüchte. In der Realität sind die "freien Volksschulen der Schweiz" ein ziemlich heterogener (verschiedenartiger) Haufe von privaten Tagesschulen, heilpädagogischen Sonderschulen oder zufällige, von irgendwelchen grün-alternativen Körnleinpickern benützte Überbleibsel einer für kurze Zeit starken pädagogischen Bewegung. Wirklich spannende, modellhafte Arbeit geschieht an diesen Schulen kaum noch.

Schluss

Ich habe auf den vorhergegangenen Seiten versucht, die Entwicklung einer Idee nachzuzeichnen, die im Verlauf der letzten 200 Jahre immer klarere Gestalt angenommen hat.  Natürlich gab es neben den hier dargestellten Schul- und Gesellschaftskritikern noch andere, die sich mit denselben Fragen befasst und ähnliche Gedanken entwickelt haben. Zu erwähnen wären die von George Dennison, Paul Goodman, John Holt und anderen Vertretern der amerikanischen FreeSchool-Bewegung der 60er und 70er Jahre entwickelten Vorstellungen einer aus kleinen, von den Beteiligten selbst gestalteten Schulen bestehenden, weitgehend dezentralisierten und entstaatlichten Schullandschaften. Die Zunahme der freien Schulen und die erfolgte oder versuchte Lancierung von politischen Initiativen zur Einführung des «Bildungsgutscheins» und zur Verwirklichung des «Rechtes auf freie Schulwahl» führten dazu, dass das Problem der staatlichen Schulträgerschaft und die Idee eines freieren Schulwesens in den letzten Jahren auch hierzulande vermehrt diskutiert wurde. Nicht zuletzt diese Vorstösse haben jedoch auch gezeigt, wie selbstverständlich den meisten von uns die heutige Form der obligatorischen Staatserziehung nach wie vor ist.  Dabei scheint mit das, was Humboldt, Bonstetten, Troxler, Tolstoj, Ferrer, Steiner, Salzmann und Illich über die Wünschbarkeit und Realisierbarkeit eines freien Bildungswesens gesagt haben, durchaus nicht nur von «historischem Wert» zu sein.  Im Gegenteil: In der Sprache ihrer Zeit haben diese Reformer, Träumer und Rebellen Gedanken formuliert, die heute mindestens so aktuell sind, wie in den Jahren, in denen sie zum ersten Mal zu Papier gebracht oder ausgesprochen wurden.

[1]•             Wirz.  A. H.: Versuch einer Beantwortung der zweyten der für 1825 ausgeschriebenen Fragen die Bildung der Schullehrer in der Schweiz betreffend.  In: Neue Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft vom 13./14.9.1825 in Luzern, 15.  Bericht.  Zürich 1825, S 187.

[2] Fritz Osterwalder spricht in diesem Zusammenhang von einem Diskurs, „der alles pädagogisierte, was in seine Gravitation geriet". Er schreibt dazu u.a.: „Diese pädagogisierende Diskursivität ist gebunden an die entstehenden Gesellschaften, die 1762 durch die HelvetischeGesellschaft eine protonationale Dachgesellschaft erhielten. Die verschiedenen Milieus aus ökonomischen, physikalischen, gemeinnützigen Gesellschaften lokaler Provenienz fanden sich in der Helvetischen Gesellschaft zu einem umfassenderen Sozietätsprojekt zusammen. Die Zielsetzung, die sie verband, war der Patriotismus, die Herstellung der Schweiz, als Tätigkeit wurde diesem gemeinsamen Ziel die gemeinsame Pädagogisiererei, die Erziehung der Öffentlichkeit zur Reform zugeordnet. (...). Das Mittel der helvetischen Reformen, ja ihr eigentlicher Gehalt wird als die neue Erziehung, Erziehung schlechthin festgelegt. Sämtliche Reformen, die anstehen, von der Reform der Bodenbewirtschaftung durch Düngung bis zur Herausbildung einer helvetischen staatstragenden Schicht im Gegensatz zu den durch Partikularismen zerstrittenen Lokalpatriziaten, sollen durch Erziehung herbeigeführt werden." - Osterwalder 1996, S. 21

[3] IM HOF Ulrich, Die Helvetische Gesellschaft: Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz, Frauenfeld, Stuttgart, 1983

[4]Tanner Konrad- Vaterländische Gedanken über die mögliche gute Auferziehung der Jugend in der helvetischen Demokratie.  Zürich 1787, S. 10.

[5]Zitiert nach: Gschwend, Hanspeter und Fischer Renate- Das aargauische Schulwesen in der Vergangenheit.  Berichte.  Quellen.  Zeittafeln.  Aarau 1976, S. 12. - Zu Stapfers Gesetzesentwurf und dessen Schicksal siehe auch die gute Zusammenfassung: «Philipp Albert Stapfer und der Kampf um die Volksschule».  In: Sektor Erziehung, Nr. 1, 1978, S. Off.

[6]•             Siehe dazu und zum folgenden: Jenzer C und S.: Lehrer werden einst und jetzt. 200 Jahre solothurnische Lehrerbildung, 150 Jahre Lehrerseminar.  Solothurn 1984, bes.  S. 61 ff.; ders.: Die Schulklasse. Eine historisch systematische Untersuchung. Mit einem Vorwort von Jürgen Oelkers, Bern 1991 sowie Von Felten, Rolf: Lehrer auf dem Weg zur Bildung - Das Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung in den Anfängen der Lehrerbildung in der deutschen Schweiz. (Dissertation.) Bern 1970

[7] Erinnerungen an Joseph Emmanuel Banz, Sextar und Pfarrer von Hildisrieden. Herausgegeben von einem Freunde des Verstorbenen. Luzern, 1839, S. 4

[8] Foucault, Michel, Überwachen und strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977, S. 188-189

[9] Mit Bezug auf Ch. Demias 1716 erschienenem "Règlements pour les écoles de la ville de Lyon" schreibt Foucault über diesen Zusammenhang u.a.: "So muß die christliche Schule nicht einfach gelehrige Kinder heranbilden; sie hat auch zur Überwachung der Eltern beizutragen, indem sie sich über deren Lebensweise, Einkommensverhältnisse, Frömmigkeit  und Sitten informiert. (...). das schlechte Betragen eines Schülers  oder sein Fehlen berechtigt nach Demia dazu, bei den Nachbarn nachzufragen, vor allem, wenn man annehmen muß, daß die Familie nicht die Wahrheit sagt; dann fragt man die Eltern selbst, um herauszufinden, ob sie den Katechismus und die Gebete kennen, ob sie die Laster ihrer Kinder ausrotten  wollen, wie viele Betten es gibt und wie man sich nachts darin verteilt; am Ende eines solchen Besuchs steht vielleicht ein Almosen, ein geschenktes Bild oder die Zuteilung zusätzlicher  Betten." - Foucault, Michel, Überwachen und strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977, S. 271-272

[10]Kost, Franz: Volksschule und Disziplin.  Die Disziplinierung des inner- und ausserschulischen Lebens durch die Volksschule, am Beispiel der Zürcher Schulgeschichte zwischen 1850 und 1930.  Limmatverlag.  Zürich. 1985, S. 39

[11] Sachsse, Christoph und Tennstedt, Florian (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1986, S. 14

[12] „Wirz unterscheidet im einzelnen: "Erstens. Blosse Privatanleitung Einzelner; diese teilt sich in das Nachziehen junger Gehülfen und Auditoren — in die Anleitung von Amtsgenossen — und in diejenigen von Seite höher stehender Männer, wie kundiger Partikularen und Pfarrer. - Zweitens. Das Kreislehrersystem. Dieses ist entweder unter Pfarrern und Schullehrern frei, wie im Kanton Bern; oder an bestimmte Pfarrer und Schullehrer gebunden, wie im Kanton St. Gallen; oder blossen Landschullehrern zur Ausführung übertragen, wie im Kanton Zürich. - Drittens. Die Anschliessung des Schullehrer-Unterrichts an bestehende anderweitige Anstalten, mit besondern Lehrstunden für die Seminaristen; diese Anschliessung alsdann mit Unterstützung der Regierung, wie in Chur, oder ohne solche Unterstützung, wie in Trogen. - Viertens. Seminarien. Diese zerfallen dem Personal der Instruktoren nach in solche, wo ein Hauptlehrer mit Unterlehrern unterrichtet, wie in Luzern und den Kantonen Solothurn und Basel, und in solche, wo mehrere Hauptlehrer arbeiten, wie in Aarau, — der Zeit nach in solche, wo einzelne Kurse von einigen Monaten, Einmal oder mehrmals besucht werden, wie in Luzern, Solothurn, Basel, und einem Teile nach in Aarau, und in solche, wo eine längere und sorgfältigere Ausbildung stattfindet." – Vgl. Hunziker, O. und Wächter, R., Geschichte der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1810—1910. Von der Gesellschaft herausgegeben zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens. Zürich 1910, S. 45

[13] Ebenda S. 46

[14]Jeremias Gotthelf hat die Schulverhältnisse der 1830er und 1840er Jahre in vielen seiner Romane und Erzählungen sehr anschaulich geschildert.

[15]DasersteLehrerseminarwarbereitsvordieserZeit,1822inAaraugegründetworden.Nach 1830 folgten die Seminare von Lausanne (1831), von Küsnacht ZH (1832), Münchenbuchsee, später Hofwil (1833) usw.

[16] Vgl. Sebastian Brändli: Der Staat als Lehrer
Die aargauische Volksschule des 19. Jahrhunderts als Konkretisierung der öffentlichen Schule liberaler Prägung. In Criblez u.a. 1999, S. 39 ff., Zitat S. 52

[17] •         Siehe dazu sowie zum Vorhergegangenen: Humm, R: Volksschule und Gesellschaft im Kanton Zürich.  Die geschichtliche Entwicklung ihrer Wechselbeziehung von der Regeneration bis zur Gegenwart.  Affoltern a. A. 1936
Kost, F.- Volksschule und Disziplin.  Aus der Zürcher Schulgeschichte zwischen 1830 und 1930.  Zürich 1985.
Kummer J.J.: Geschichte des Schulwesens im Kanton Bern.  Bern 1874.
Martig, E.: Überblick über die Entwicklung der schweizerischen Volksschule.  In: Martig, E.: Geschichte der Erziehung.  Bern 1901, S. 304 bis 344
Scherr, Ignaz Thomas: Meine Beobachtungen, Bestrebungen und Schicksale während meines Aufenthaltes im Kanton Zürich von 1825 bis 1839.  St. Gallen 1840. (Scherr war zwischen 1832 und 1839 wesentlich am Auf- und Ausbau der Zürcher Volksschule beteiligt und beschreibt diesen hier als Mithandelnder.)

[18] Schinz u.a.: Drei Reden über technische Bildung und insbesondere über das technische Institut in Zürich.  Zürich 1832, besonders die erste Rede.

[19]Siehe dazu u.a.: Vonlanthen, A. u.a.: Maturität und Gymnasium.  Ein Abriss über die Entwicklung der eidgenössischen Maturitätsverordnung und deren Auswirkungen auf das Gymnasium.  Bern und Stuttgart 1978, insbesondere Teil A, S. 17ff.

[20] Vgl. dazu die entsprechenden Beiträge in Criblez, Lucien u.a. (Hrsg.), Eine Schule für die Demokratie. Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern u.a. 1999 sowie Lustenberger, Werner, pädagogische Rekrutenprüfungen. Ein Beitrag zur Schweizer Schulgeschichte. Chur und Zürich 1996

[21] Criblez, Lucien u.a. (Hrsg.), Eine Schule für die Demokratie. Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern u.a. 1999, S. 22

[22]          Grunder, H.U.: Das schweizerische Landerziehungsheim zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Verlag Peter Lang, Frankfurt / Bern 1987

[23]          Wintsch, Jean: Un Essaie d'Institution Ouvrière. L'Ecole Ferrer

Genève, 1919

[24]          Baumann, Harold: Geschichte der Montessoribewegung in der Schweiz. in: Pro Juventute Nr. 4 1986, S. 3-11

[25]          Weitere Angaben zur Pädagogik Rudolf Steiners in der Schweiz finden sich u.a. in:

Rudolf Steiner-Schulen der Schweiz Hrg: 50 Jahre Pädagogik Rudolf Steiner

Basel, 1969

[26]          Grunder, H.U.: Von der Kritik zu den Konzepten. Aspekte einer einer Geschichte der Pädagogik der französisch sprachigen Schweiz im 20. Jahrhundert

Verlag Haag und Herchen, Frankfurt a.M., 1986

[27]          "Der Kampf um das Recht auf freie Schulwahl". In: "Endlich! ... Zeitung für ein freies Bildungswesen", Heft 3, Sept. 1991

[28]          Langewiesche, Dieter und Tenorth, Heinz-Elmar: Bildung, Formierung, Destruktion. Grundzüge der bildungsgeschichte von 1918 bis 45. Einleitung des "Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte" Band V 1918 bis 1945: Die Weimarer Republik und die National-Sozalistische Diktatur. Herausgegeben von D. Langewiesche und H.-E. Tenorth.

Ch. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. München 1989 S. 1-24

Keim, Wolfgang: Verfolgte Pädagogen und verdrängte Reformpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik Nr. 3/1986, S.345-58

Leschinsky, Achim: Waldorfschulen im Nationalsozialismus. In: Neue Sammlung Mai/Juni 1983 S. 255-283

Röhrs, H.: Die Schulen der Reformpädagogik. Glieder einer kontinuierlichen internationalen Bewegung. In: Röhrs, H. Hrg: Die Schulen der Reformpädagogik heute

Düsseldorf, 1986, S.13 ff

Feidel-Mertz, Hildegard: Schulen im Exil. Bewahrung und Bewährung der Reformpädagogik. In: Röhrs, H. Hrg: Die Schulen der Reformpädagogik heute

Düsseldorf, 1986, S.233 ff

[29]          Näf, M.: Die Ecole d'Humanité in Goldern. Der Neubeginn Geheebs. In: Röhrs, H. Hrg: Die Schulen der Reformpädagogik heute

Düsseldorf, 1986, S.101 ff

[30]          Kupffer, Heinrich: Der Faschismus und das Menschenbild der deutschen Pädagogik.

Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 1984

[31]          Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte

Juventaverlag, Weinheim / München, 1989

[32]          Siehe dazu u.a.: Tobler, Erich: Institutserziehung. Ein Beitrag zur Geschichte der praktischen Erziehung in der deutschen Schweiz von der Zeit Pestalozzis bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Verlag Sauerländer, Aarau, 1944

[33]          Magnani, Franca: Eine italienische Familie. Kiepenheuer und Witsch, S.68 ff.

[34]          Eine Zusammenstellung der Schweizer Alternativschulen mit Adressen und Kurzbeschreibungen findet sich in: Näf, M.: Alternative Schulformen in der Schweiz

Verlag pro Juventute, Zürich, 1990

[35]Diese Angaben zur MES stammen aus dem Jahr 1986. Neuere Informationen fehlen.