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ADALBERT GEHEEB - ZEUGE EINER VERLORENEN WISSENSCHAFTSKULTUR. Einige Gedanken und Anmerkungen anlässlich des vom Biosphärenreservat der Rhön am 16. 11. 2002 durchgeführten Symposions zu Ehren Adalbert Geheebs. Fragment

Unermüdlich erforschte und pries er die Wunder der Mooswelt und in dem zarten Gebild ahnte er göttliche Spur. [1] - Martin Näf, Basel

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende. Ich freue mich heute hier bei Ihnen sein und ein paar Worte zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich bin von Hause aus eigentlich Pädagoge und Pädagogikgeschichtler, und ich verstehe, das möchte ich gleich vorweg klarstellen, von Moosen und der ganzen übrigen Botanik eigentlich nichts.

Ich stiess erstmals auf den Namen Adalbert Geheeb als ich mich vor langer Zeit mit dem Leben und Werk seines Sohnes Paul Geheeb, des bekannten Reformpädagogen, zu befassen begann. Seither habe ich mir immer gewünscht, dass jemand sich einmal mit Liebe und Eifer dieses Menschen und des, wie ich glaube, interessanten, aus dem Nachlass Paul Geheebs stammenden Materials annehmen möge, welches seit einigen Jahren mehr oder weniger wohl verwahrt im Geheeb-Archiv der Ecole d'Humanité[2] seiner Entdeckung und Auswertung entgegenharrt. Wenn ich heute hier bin, so bin ich dies also vor allem, um diesen meinen Wunsch bekannt zu machen und vielleicht jemanden zu gewinnen, der Lust auf ein entsprechendes kleines Forschungsprojekt hat. In diesem Sinn ist das folgende deshalb auch eine Art weitläufigen Werbespots!

Was mich an Adalbert Geheeb von Anfang an fasziniert hat war nicht seine angebliche oder tatsächliche Leistung als Bryologe, es war auch nicht seine zwar interessante, aber doch nicht so besondere Lebensgeschichte, sondern es war vor allem seine Art, Wissenschaft zu betreiben. Wenn wir diese mit dem heutigen Wissenschaftsbetrieb vergleichen, können wir meines Erachtens Einiges über die Frage lernen (oder wiederlernen), wie Wissenschaft organisiert und betrieben werden könnte oder müsste, um (wieder?) zu einer produktiven, hilfreichen Kunst im Umgang mit uns und unserem Planeten zu werden. Dahinter steckt mein Gefühl, dass die Wissenschaft dies heute zwar noch immer gerne wäre, dass es ihr jedoch insgesamt längst mich mehr gelingt, da sie seit den Zeiten Adalbert Geheebs fast ganz zu einer Art Fabrik degeneriert ist, die rund um die Uhr Erkenntnisse und Wissen produziert und dieses über die Menschheit ausschüttet, ohne sich um den Sinn dieses Tuns und den gesellschaftlichen und menschlichen Wert dieser Erkenntnisse zu kümmern.

Ehe ich nun aber der Frage nachgehe, inwiefern Adalbert Geheeb tatsächlich als Einstieg zu einer Fallstudie dieser Art dienen könnte, will ich – zur Abrundung des eben von Herrn Kleber Skizzierten Bildes – zunächst noch einige Dinge zur Biographie Adalbert Geheebs nachtragen.

Licht und Schattenseiten im Leben Adalbert Geheebs
Eine biographische Skizze beginnt für mich dort interessant zu werden, wo wir neben Licht auch Schatten, neben Stärken auch Schwächen wahrnehmen, denn nur dann begreifen wir (auch in unserem Herzen), dass der portraitierte Mensch letztlich aus demselben Stoff gemacht war bzw. ist, wie wir selbst; nur dann können wir beginnen, uns mit dem portraitierten zu vergleichen, an und von ihm zu lernen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf drei miteinander verbundene Themenkreise hinweisen, die in einer oberflächlichen Darstellung leicht wegfallen, die mir für ein tieferes Verständnis des Menschen Adalbert Geheeb jedoch wichtig scheinen.

1. Adalberts Ehe endete in einer veritablen Katastrophe. Aus den autobiographischen Aufzeichnungen seiner Tochter Anna[3] geht hervor, dass er sich im Verlauf der 1870er Jahre immer mehr an die aus dem schweizerischen Brugg stammende Kunstmalerin Emmy Belard anschloss. Während seine Frau, Adolphine, geborene Calmberg, eine Cousine Adalbert Geheebs, sich neben den Kindern, dem Haus und den Gärten immer öfter um die Apotheke kümmerte, um ihrem Mann wenigstens hie und da Gelegenheit zu geben, einige Tage auf Moostour zu gehen oder konzentriert hinter dem Mikroskop zu arbeiten, interessierte Emmy Belard sich für das, was Adalbert Geheeb bewegte. Ihr konnte er seine Moose zeigen. Sie hatte Zeit, mit ihm durch die Rhön zu streifen, ihr konnte er vielleicht auch hie und da sein herz ausschütten und als erfahrene Zeichnerin erwies sie sich auch bald als sehr nützlich, wenn es galt, Moose für private Zwecke oder für eine Publikation zu skizzieren. Was als Moosfreundschaft begann entwickelte sich deshalb allmählich zu einer Liebesgeschichte, währenddessen Adalberts Frau ziemlich still und unbeachtet zu Grunde ging.

Adolfine Geheeb, welche sich anfänglich auf die Ehe gefreut und ihre vielen Aufgaben mit grosser Energie angegangen war, erholte sich nur langsam von der Geburt ihres fünften Kindes, eines Jungen mit Namen Adolph, der im April 1978 zur Welt kam und noch im selben Jahr starb. Sie klagte seither immer öfter über Schwäche und diffuse Fieber. Zu Beginn der 1880er Jahre machen sich in ihrem Unterleib zwei grosse Geschwulste bemerkbar. Ihre Behandlung wird vernachlässigt bis sie im Sommer 1883 schliesslich doch einen kompetenten Arzt konsultiert, der Gebärmutterkrebs feststellt. Aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums des Krebses ist eine Operation nicht mehr möglich, sodass Adolphine nach 15 weiteren, zunehmend qualvollen Monaten im November 1884 44 jährig stirbt. Bereits ein halbes Jahr später verlobt sich Adalbert Geheeb mit seiner Freundin Emmy Belard; im Frühjahr 1886 heiraten sie. Geheebs Verwandtschaft war über Adalberts schnelle Wiederverlobung so empört, dass dieser danach beinahe völlig aus dem Familienverband ausgestossen wurde.

Dieses nie offen diskutierte Familiendrama belastete auch das Verhältnis zwischen Adalbert Geheeb und seinen Kindern bis zu seinem Tod im September 1909 nachhaltig. Dabei bestand ein wesentlicher Teil der Schwierigkeiten gerade in der Tatsache, dass man über all diese Dinge und die damit verbundenen Gefühle und Fantasien nicht sprach. Dies wiederum hängt ursächlich mit dem nächsten Aspekt der Biographie Adalbert Geheebs zusammen, auf den ich hier kurz zu sprechen kommen möchte.

2. Adalbert Geheeb litt sein Leben lang an manisch-depressiven Schüben. Er starb in der "Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden", einer noch heute existierenden psychiatrischen Klinik in der Nähe des bereits erwähnten Städtchens Brugg, in welchem Adalbert Geheeb als Apothekergehilfe zu Beginn der 1860er Jahre seine erste wissenschaftliche Arbeit verfasst hatte.

Nachdem er 1897 seine Apotheke in Geisa verkauft und sich mit seiner Frau in Freiburg i.B. niedergelassen hatte, nahmen die depressiven Krisen Adalbert Geheebs, die bereits seine erste Ehe stark belastet hatten, derart zu, dass er nach 1900 mehrmals hospitalisiert wurde. In der Freiburger Irrenanstalt wird – der damaligen Terminologie entsprechend – "manisch-depressiver Irrsinn" diagnostiziert. 1908 fällt Adalbert Geheeb, der sich auf einer kleinen Schweizerreise befindet, einigen Bahnbeamten in Brugg wegen seines seltsamen Benehmens auf. Er wird in die nahe gelegene Klinik von Königsfelden eingeliefert. Nach einem von Adalbert Geheeb wie es scheint als sehr angenehm empfundenen sechsmonatigen Aufenthalt wird er im Dezember 1908 entlassen, wird jedoch fünf Monate später auf Wunsch seiner Frau erneut in Königsfelden interniert, da sie die Stimmungsschwankungen ihres Mannes, insbesondere seine Ausbrüche unberechenbarer Aggressivität nicht mehr ertrage. Wieder scheint Geheeb den Aufenthalt in der Klinik zu geniessen. Er ist aktiv, kümmert sich um den von seiner Frau dringend gewünschten Verkauf seines Herbars[4], führt seine weitverzweigte Korrespondenz weiter, will seine Memoiren schreiben und entwickelt auch sonst viele neue Aktivitäten. Schliesslich stirbt er am 13. 9. 1909 an einer Embolie.[5]

3. Die Moose halfen Adalbert Geheeb bei der Lebensbewältigung. Wenn wir die im Geheeb-Archiv der Ecole d'Humanité erhaltenen privaten und geschäftlichen Briefe – mehrere hundert aus dem Zeitraum von 1856 bis 1909 – durchsehen, so erweist sich Geheebs Liebe zu den Moosen immer mehr auch als Ausdruck seiner Angst vor den Menschen. Diese "geringsten unter den Kindern Floras" werden für ihn immer mehr zur einzigen Brücke zu den Menschen. Dies ist gewissermassen die Rückseite seiner grossen Hingabe. Seine erste Frau Adolphine lernt er als seine "Moosfreundin" kennen. IN der Apotheke zu Geisa blüht er auf, wenn er über Moose sprechen, draussen auf Moossuche gehen oder seine Moosbilder vorführen kann. Später in Freiburg richtet er eine Moosstube ein. Mit seinem Sohn Paul verbinden ihn während dessen Studentenzeit fast ausschliesslich Moosinteressen. Er schreibt Moosgedichte, macht Moosgeschenke und fällt noch während seiner letzten Königsfelder Monate dadurch auf, dass er den anderen Patienten und dem dortigen Personal begeistert von den Moosen erzählt und seinen Tischgenossen am Mittagessen vorführt, was er im Garten der Klinik gefunden und gesammelt hat. Es ist Interesse und Begeisterung, die mehr und mehr zu Schrulligkeit und Besessenheit werden. Es ist eine Krankheit, die im Falle Adalbert Geheebs relativ harmlos verlief – er blieb bis zuletzt ein liebenswerter, gebildeter und sympathischer Gesprächspartner, mit dessen Neigungen zu Schwermut und überschwänglicher Euphorie man durchaus leben konnte solange man nicht gerade mit ihm verheiratet war -, aber es ist doch eine Art der Spezialisierung und dauernder Horizontverengung, die auch als pathologisches Phänomen, als (mehr oder weniger bewusste) Flucht vor der Welt mit ihren Widersprüchen, ihren Schmerzen und Konflikten gedeutet werden kann. Eine zur disfunktionalen Gewohnheit gewordene Schutz- und Abwehrreaktion, die durch Geheebs depressive Veranlagung, seine Unfähigkeit über persönlichere Dinge zu sprechen andauernd verstärkt und bestätigt wird.

Die Moose als heile Welt, als Zufluchtsort und als Ersatzbefriedigung. Wissenschaftliche Arbeit als Selbstberuhigung und als Flucht: Es ist eine Deutung, welche mit dem Wert der von Geheeb und anderen "schweren Workoholikern" geleisteten Arbeit an sich nichts zu tun hat; es ist jedoch eine Deutung, die auf die in diesem psychologischen Mechanismus liegenden Gefahren hinweist, und die das Bild des immer hilfsbereiten, liebenswürdigen, freigiebigen, sachlich kompetenten und anspruchslosen Moosforschers Adalbert Geheeb, wie es u.a. auch von seinem Freund Julius Röll in seinem ansonsten durchaus lesenswerten, 1910 erschienenen Nachruf vermittelt wurde[6], vielleicht etwas voller macht und uns auch in anderen Fällen vor zu grosser Vereinfachung warnt.

Damit möchte ich den Menschen Geheeb verlassen und mich der Frage zuwenden, welche Ausblicke wir durch die Beschäftigung mit der Figur und der Arbeit Adalbert Geheebs auf das weite Feld der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts erhalten und inwiefern diese Aus- oder Einblicke auch für uns Heutige belangvoll sein könnten, denn hierin sehe ich, wie gesagt, das eigentlich faszinierende an dieser Figur und das, was sich heute aufzuarbeiten lohnen würde.

Adalbert Geheeb –Zeuge einer anderen Art von Wissenschaft?
Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Fragenkomplexe aufgreifen. Es scheinen mir Fragen, die im Hinblick auf das Wesen und die Wirkung unserer heutigen Wissenschaft von allergrösster Bedeutung sind. Da ich jedoch auch in diesem Bereich kein Experte, sondern allenfalls ein interessierter Laie bin, kann ich eigentlich nicht mehr als Thesen und Fragen zur Diskussion stellen, die mir interessant erscheinen, die vielleicht aber in eine ganz falsche, illusionäre Richtung führen. Was ich im folgenden formuliere sind also Forschungshypothesen und Forschungsfragen.

1. Die methodische Dimension. Die Art und Weise des Forschens
Adalbert Geheeb war offenbar als Experte in Sachen Moose oder Laubmoose international bekannt und gefragt. Die systematische Arbeit des Sammelns und Bestimmens lag ihm. Er verbrachte Wochen vor dem Mikroskop, las Fachzeitschriften und publizierte in solchen. Wenn seine Lebensumstände es zugelassen hätten, so wäre er am liebsten "Naturforscher" geworden. So gesehen war Adalbert Geheeb ein in seinem Fach nicht ganz erfolgloser, "klassischer" Naturwissenschaftler.

Er wurde in seiner Zeit aber auch durch seine Moosbilder bekannt. Es handelt sich dabei um rund 600 Bilder aus gepressten Flechten und Moosen, die er im Laufe von fünf Jahrzehnten angefertigt hat. Es waren meist naturalistische Wiedergaben der ihm so vertrauten Landschaften der Rhön, also der Orte, an denen viele seiner geliebten Moose "zu Hause" waren -, hie und da auch eine freier komponierte Phantasielandschaft. Eine Auswahl dieser Moosbilder sei, so berichtet Julius Röll in dem bereits erwähnten Nachruf 1910, u.a. auch an der Pariser Weltausstellung gezeigt und mit einem Preis ausgezeichnet worden.

Adalbert Geheeb näherte sich dem Gegenstand seiner Forschungen also auf zwei Weisen: Einerseits geführt vom Wunsch zu Ordnen und zu bestimmen, zu begreifen und einzuteilen, andererseits geführt von der Freude an der Schönheit seiner Moose, von der Liebe zu ihren Formen und Farben und der sinnlichen Lust an der Moossuche, an Sonne und Wetter, Himmel, Nebel, Regen und Kälte. Diese beiden Arten des Umgangs mit seinem "Stoff" finden wir auch in seinen Schriften, wie das Beispiel seiner rund 60 Seiten starken Abhandlung über die Moose der Milseburg, die er 1901 in der Festschrift zum 25 jährigen Bestehen des Rhönclubs veröffentlichte, zeigt. Hier finden wir romantische Poesie, eine Liebeserklärung an die Milseburg und ihre kleinen Bewohner, die Moose, also eine durchaus romantisch-intuitive Annäherung, Hand in Hand mit einer systematischen und genauen Beschreibung der 222 Moosarten, die Geheeb auf der Milseburg gefunden hat.

Adalbert Geheeb war, so könnte man etwas vereinfachend sagen - vereinfachend, weil damit im Grunde ein Wissenschaftsbegriff benützt wird, der ja eben problematisiert werden soll -, sowohl Wissenschaftler als auch Künstler, wobei die beiden Seiten sich bei ihm nicht voneinander trennen lassen. Er verkörperte damit – dies meine erste Behauptung - so etwas wie einen ganzheitlichen Forschungsansatz, bzw. eine ganzheitliche Wissenschaft, welche noch nicht vom naiven Staunen, vom Gefühl der Freude und vom zweckfreien Spiel losgelöst zur mechanischen Maschine, zum scheinbar rein rationalen Wissenschaftsbetrieb geworden ist.

Wenn wir uns an den vom russischen Psychologen und Hirnforscher Alexander R. Luria verwandten Begriffen orientieren, so können wir sagen, in Adalbert Geheeb lebte sowohl die heute dominierende Tradition der klassischen als auch die seither weitgehend verdrängte Tradition der romantischen Wissenschaft.[7] Im Sinne der von Sloterdijk in seiner "Kritik der zynischen Vernunft" (Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987) entwickelten Begriffe war Adalbert Geheeb sowohl analytischer als auch "erotischer", ganz dem konkreten Objekt hingegebener, leidenschaftlicher Wissenschaftler. – Dies sind jedoch vorerst nur Begriffe, leere Worthülsen. Wichtig mit Blick auf unsere Zeit ist die Frage, ob Adalbert Geheeb und die Amateur-Wissenschaftler seines Schlages vor 100 und 150 Jahren tatsächlich eine besondere, heute verlorene Qualität oder Dimension wissenschaftlichen Arbeitens verkörperten, eine umfassendere Art des Schauens und Verstehens vielleicht, umfassender als heute üblich. Ich kenne mich in der Wissenschaftsgeschichte zu wenig aus, um sagen zu können, ob die Begriffe der romantischen oder der erotischen Wissenschaft uns irgendwie weiterhelfen, ob sie tatsächlich – wie ich es gerne hätte – auf eine Art versunkene Tradition des Denkens und Sehens hinweist, eine Tradition, bei der ich z.B. auch an Goethe, an Novalis, an die anthroposophische Wissenschaft, vielleicht aber auch an Adalbert Geheebs Freund und Vorbild Ernst Haeckel - der sich gerade für die romantische Seite von dessen Arbeit, d.h. für seine Moosbilder ganz besonders interessiert hat -, an Adolph Portmann und Taillard de Jardin oder Fridjov Capra und Hanspeter Dürr, an Paul Feyerabend oder Ruppert Sheldrake denke. Es ist eine wissenschaftliche Kultur oder besser Subkultur, vielleicht auch ein Gemenge verschiedener Subkulturen, in welcher – so meine Vorstellung – nicht nur Verstand, Logik und Abstraktion, sondern auch Gefühl, Intuition und sinnliche Erfahrung ihren Platz haben. Eine Kultur, die den Wert der Ineffizienz, des Staunens oder des ziellosen Spiels und die Gesetze der Nachhaltigkeit und der Vernetztheit kennt. Polemisch gesagt wäre es eine fröhliche, dem Leben zugewandte, sinnliche Wissenschaft und keine tote Abstrahier- und Analysiermaschine, die alles was oben hineingeworfen wird zu Staub zermahlt, egal ob es sich dabei um Vögel, Steine, die Geschichte Indiens, die deutsche Literatur oder zwei Jungen namens Max und Moritz handelt.

Adalbert Geheeb hat sich über derartige wissenschaftstheoretische Fragen vermutlich nie den Kopf zerbrochen, doch sie wurden vielleicht in den Kreisen, mit denen er in Verbindung stand, diskutiert, oder sie tauchen dort zumindest als "gelebte Wirklichkeit" auf so wie sie es in Geheebs Arbeit (in den Moosbildern und seinen poetischen Umarmungen der Wissenschaft) tun. Es wäre meines Erachtens jedenfalls sehr reizvoll (und könnte auch wissenschaftsgeschichtlich durchaus ergiebig sein), den Nachlass Adalbert Geheebs einmal aus der Sicht dieser Fragestellungen zu bearbeiten. Dabei wird vielleicht auch etwas Weiteres sichtbar, was mir im Zusammenhang mit der Figur Adalbert Geheeb spannend scheint, etwas, was man die wissenschaftssoziologische Dimension seiner Arbeit nennen könnte.

2. Die wissenschaftssoziologische Dimension. Die Rahmenbedingungen des ForschenIn diesem Zusammenhang geht es um die Frage, inwiefern die Tatsache, dass Wissenschaft in der westlichen Welt im Laufe der letzten 150 Jahre zu einem Massenberuf mit Aufstiegsmöglichkeiten und Pensionsansprüchen geworden ist, die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit beeinflusst, verbessert oder beeinträchtigt hat. Als Thesen und Fragen, die wiederum in der Auseinandersetzung mit der Figur Adalbert Geheeb getestet und anhand seines Umfeldes exemplarisch beschrieben werden könnten, kommen von mir aus gesehen u.a. folgende in Frage:

Adalbert Geheeb vertritt den Typus eines freien Wissenschaftlers, eines Amateurs im besten Sinn. Für ihn war Wissenschaft nicht Welteroberung, sondern Gespräch mit der Welt. Wäre er für seine Arbeit bezahlt worden, so wäre er, wie es seither der Mehrheit der Wissenschaft geschehen ist, in die Abhängigkeit seiner Geldgeber und damit zum Werkzeug ihres mehr oder weniger klar ausgesprochenen oder spürbaren Willens geraten. Adalbert Geheeb kommunizierte dagegen in einer wissenschaftlichen Gemeinde, die, so meine Vermutung, noch zu 50% oder mehr aus Amateuren bestand. IN dieser Gemeinde war die eigene Forschertätigkeit noch unmittelbar mit der Freude am Forschungsgegenstand verbunden und konnte weitgehend frei dosiert werden, je nach sonstiger Beanspruchung und Verfassung. Im Gegensatz zur lohnabhängigen Berufswissenschaft ist die Gefahr, dass Arbeiten, die als sinnlos empfunden werden oder im Widerspruch mit den eigenen Werten stehen, während Monaten, ja Jahren fortgesetzt werden, in einem Umfeld, wie wir es bei Adalbert Geheeb finden, gering. In der von ihm erlebten "scientific community" spielten Ehrgeiz, Futterneid oder Rangkämpfe eine wesentlich kleinere Rolle als im heutigen Wissenschaftsbetrieb.

Einen dem Diktat des "publish or perish" folgenden massenhaften Ausstoss von immer neuen, belanglosen Theorien und Theoremen mit dem entsprechend sinnlosen Papierverschleiss, wie er selbstverständlich zum heutigen Wissenschaftsbetrieb gehört (und z.B. von aus allen Näten platzenden Bibliotheken lauthals beklagt wird) existierte in der Geheebschen Forschungsgemeinschaft ebenso wenig wie der Zwang zur professionellen Angeberei, der den heutigen Wissenschaftsbetrieb in hohem mass beherrscht während echtes Interesse und offene Begegnungen in ihm zur Ausnahmeerscheinung geworden sind.

Die Figur Adalbert Geheebs - und damit kehre ich zu meinem Werbespott zurück - könnte sich also als Ausgangspunkt einer Studie eignen, in der die Theorie und Praxis einer Art von Wissenschaft thematisiert wird, die heute weitgehend verschwunden ist oder in den Bereich vorwissenschaftlicher Liebhaberei abgedrängt wurde. Ob Adalbert Geheeb sich tatsächlich als Ausgangspunkt für eine solche Studie eignet, hängt neben der spezifischen Qualität seiner Leistungen natürlich auch davon ab, welches Quellenmaterial heute für eine derartige Arbeit vorliegt. Dabei scheinen neben den Beständen des Ernst Haeckel-Hauses in Jena[8], die rund 800 privaten und geschäftlichen Briefe von oder an Adalbert Geheeb sowie einige Alben und ein Notizbuch, die photographische Reproduktion eines seiner Moosalben und einige weitere Einzelstücke aus seinem Nachlass, die sich heute weitgehend unbearbeitet im Geheeb-Archiv der Ecole d'Humanité in der Schweiz befinden, von besonderer Bedeutung. Ich möchte meinen Werbespott für Adalbert Geheeb und seine Art der Wissenschaft deshalb mit einer Einladung in dieses kleine Archiv schliessen. Wer weiss: Vielleicht ist die Reise in die Schweizer Berge ja der Beginn Ihres nächsten Forschungsprojektes!

[1] Inschrift auf dem Grab Adalbert Geheebs.

[2] Ecole d'Humanité, Geheeb-Archiv, CH-6085 Hasliberg-Goldern, http://www.ecole.ch/educat/garchiv.htm; Tel. +41 792 92 92, Email: ecole@ecole.ch (Geheeb-Archiv im Betreff angeben).

[3] Geheeb, Anna: Erinnerungen. Unveröffentlichtes Typoskript, ca. 1940. Geheeb-Archiv, Sign. V/E/3.

[4] In diesem Zusammenhang schrieb er 1909 an seinen Freund Ernst Haeckel: "Mein europäisches Herbar umfasst 1.300 Species, vertreten in ca. 50.000 verschiedenen Formen." - Zitat vermutlich nach Ritz, Wilhelm: Geisa 1150 Jahre. Geisa, 1967.

[5] Vgl. dazu auch die einschlägigen Angaben in Näf, M.: Paul Geheeb. Seine Entwicklung bis zur Gründung der Odenwaldschule. Deutscher Studienverlag, Weinheim 1998. - Über die letzten Jahre Adalbert Geheebs sowie sehr summarisch über seine Persönlichkeit gibt seine in der psychiatrischen Klinik in Königsfelden (Brugg) befindliche Krankengeschichte Auskunft.

[6] Vgl. Röll, Julius: meine Erinnerungen an Adalbert Geheeb. Mitteilungen des Thüringischen botanischen Vereins. 27. Heft 1910, S.1-13. Röll schreibt dort u.a.: "Geheeb war ein Krösus an Moosschätzen; tauschte mit den berühmtesten Moosforschern des In-und Auslandes, deren Photographien er in einem grossen Album vereinigt hatte (...). Er war immer ausdauernd im Wandern, lebhaft und anregend im Gespräch, fröhlich und zum Scherz geneigt und lieblich im Umgang. Einfach und streng in der Erziehung seiner Kinder und dabei von unendlicher Aufopferung und Herzensgüte. (...)." Wenn man sich ein Bild machen wolle von Geheeb, "so muss man sich einen mittelgrossen, lebhaften Mann vorstellen, der ausgerüstet mit Botanisierbüchse, Moosnetz und Hakenstock, angetan mit der sturmgefeiten Lodenjoppe, in reichem, langem wallenden dunklen Haar glückstrahlend rüstig dahinschreitet mit weit ausschauendem offenen Blick der lebhaften geistvollen braunen Augen, den Kopf mehr nach oben gerichtet als gesenkt. (...). Wer ihn persönlich kannte, war entzückt von dem frischen natürlichen Ton seiner gewinnenden Rede, von der Höflichkeit seines Herzens und von der Lieblichkeit seines ganzen Wesens." (Röll 1910 S.2, 3, 12)

[7] Luria, Alexander R.: Romantische Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1993

[8] Laut Wilhelm Ritz erhielt das Ernst Haeckel-Haus "6 Alben und eine grosse Mappe (Moosherbarien) (...), 2 Moosbilder (...) und eine Sammlung Rhönmoose." (Ritz, Wilhelm: Geisa 1150 Jahre. Geisa, 1967, S. 62) Im Haeckelhaus befinden sich überdies ca. 30 Briefe von Adalbert Geheeb an Ernst Haeckel.