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An Alle oder niemanden, Anfang Februar 1997, Short Mountain Sanctuary

Hier müsste nun Dein Name stehen: Ruth, Madelaine, Helmar oder Hermann oder Martha oder Rosi oder Hanspeter oder ... eben Dein Name, denn Du gehörst mit zu den Vielen, die sich im Laufe der Zeit in mir eingenistet haben und mit denen ich mich so gerne und so oft unterhalte - meist ohne dass Du es merkst, nur so für mich, während ich auf einen Bus warte oder meinen obligaten Morgenkaffee braue oder auf dem Klo sitze und der Dinge harre, die da kommen wollten. Ja, zu diesen lieben Menschen meines Innern gehörst auch Du! Drum: Sei mir gegrüsst - auch Du - jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde!

Ja, nächtlich ist die Stunde für wahr! Nächtlich und ganz, ganz still hier in meinem etwas abseits vom Weg zwischen Bäumen versteckten Sommerhüttchen mit seinem Balkon und seinem einzigen, in das Giebeldach hinaufgehenden Zimmerchen. Kein Auto ist zu hören und kein anderes Geräusch, das mich irgendwie an unsere Zivilisation erinnern würde - oder besser: Kein solches Geräusch war zu hören bis vor ein paar Minuten. Ich lag draussen auf dem Balkon, schön eingemummelt in meinen Schlafsack, habe an einem meiner Lieblingsluftschlösser herumgebastelt und Zwiesprache mit der Natur gehalten. Tja, das kann man hier, im fernen Amerika! Ich habe auf das leise Rauschen  der vom Wind sanft hin und her bewegten Bäume und auf das gelegentliche Bellen eines weit entfernten Hundes gehorcht, habe eine Ziege reklamieren und einen Hahn krähen gehört - vielleicht Streit im Stall oder Albträume oder doch der Fuchs, obschon: so dramatisch klang es nicht. Zweimal hat irgendwas ganz in meiner Nähe gefaucht -, ziemlich laut, eigentlich eher ein heiseres Husten, eine Mischform, ein Husten oder Hauchen gewissermassen. Ich, ein Kenner des weltweiten Tierlebens, denke natürlich an Hirsch, denn solche soll es hier ziemlich reichlich geben und man weiss ja, wie die Hirsche so vor sich hin fauchen, wenn sie in der Dunkelheit Angst kriegen oder immer vorbeibeissen an den Blättern, von denen sie sich doch ernähren sollen.  Im Übrigen möchte ich sowieso kein gefährlicheres Tier neben meinem Schlafsack haben; man weiss ja nie, ob so ein Balkon auch hält, wenn so ein Büffel mit seinem Kopf dagegen stösst - so dunkel wie das hier ist, wär das ja kein Wunder! -, und dann die Bäume ringsum: wie leicht springt einem da so ein Leopard ins Gesicht, und man das möchte - bei den heutigen Spitaltaxen? Nein nein. Da bleibe ich lieber beim guten alten Hirsch; da weiss man doch, was man hat und beissen tut er auch nicht!

Nun, inzwischen keucht es sowieso nicht mehr da draussen, und auch bei den Ziegen und Hühnern ist wieder Ruhe. Ich bin allerdings auch nicht mehr, wo ich einmal war, denn plötzlich hat es angefangen, auf meine Nase zu tropfen, und auch neben meine Nase! Richtiger Regen, und da man uns am Radio eine ordentliche Portion davon versprochen hat - für diese Nacht, wie ich mich plötzlich erinnerte - habe ich mein Freiluftlager zusammengerollt und unter die hölzerne Bank geschoben. Jetzt liege ich drinnen in meinem Hüttchen. Statt der Naturgeräusche höre ich das Surren meines Computerchens, welches auf meiner "privaten Stelle" liegt und diese wärmt, während ich Euch ein wenig von meinen Abenteuern erzähle -, ja Euch -, ich habe ja gestanden, dass Du nicht der Einzige oder die Einzige bist, die diesen Brief kriegt. Ich weiss schon, wie einem das schmerzen kann im inneren Flechtwerk der Gefühle, aber was soll ich tun: Hättest Du lieber keinen Brief gekriegt statt dieser zugegebenermassen brutalen Massenabfertigung? Wenn ja, dann quäle Dich nicht weiter! Sei erwachsen, übernimm die Führung in Deinem Leben und schmeiss diese paar Seiten zum Altpapier, oder falls Du in Deiner Abfallbewirtschaftung (tja,das ist ein schickes Wort, gelle! -, falls Du also in Deiner Abfallbewirtschaftung noch nicht so weit entwickelt sein solltest, dann schmeiss dieselben paar Seiten sonst wohin -, zu den Radioprogrammen unters Bett oder in den Garten der Nachbarn! Ich gebe Dir völlig Recht: Wir lesen zu viel, wir sind überschwemmt mit Gedrucktem; es ist schade um die Bäume; mehr Qualität statt Quantität! Also, weg damit und tschüss! - Ist doch wahr! Beklagen sich über Massenabfertigung und so aber lesen das Zeug trotzdem. Naja. Weiter. Uns soll's die Laune nicht verderben! Nur eben: Ein bisschen ärgerlich ist es schon, dieses ewige Gemeckere! Machen sich ja keinen Begriff, wie mühsam das Briefschreiben ist, wenn man unterwegs ist. Das Schreiben ginge ja noch, aber dann: Wo finde ich einen Drucker, um den Schmarren auszudrucken, wo ein Couvert, wieviel Briefmarken braucht das Ding? Wo sind die Air-Mail-Stickers (heisst Luftpostkleber!) und wer geht wann in den nächsten 15 Jahren einmal vielleicht zufällig auf die Post und könnte für mich einen Brief mitnehmen und und und. Ist ja kein Fünfsternhotel, in dem ich hier residiere, und wenn's wieder einmal schneien sollte, dann ist der Laden hier dicht: No more car travels - nix Auto. Bambam. Schneeschuh oder Wauwau! So ist das hier nämlich. Total primitiv! Plumsclo im Freien, jaja! Und nix Fleisch und so, nein nein: Gemüse! Selber waschen und schnipseln! Nix Tiefkühlkost und so! Tiefkühl sonst ja, wenn's schneit und so, aber nicht mamam. Nein nein. Hier ist also sehr Natur - nicht Natur pur, zum Glück! Kaffee ist da - sonst wäre ich fort! Aber sonst. Wie gesagt: Wo sind die Marken, und wer kann mir mal mit dem Drucker helfen und überhaupt: Dass es Strom gibt hier oben, hinter den sieben Bergen, bei den 16 schwulen Männern mit ihren schwangeren Ziegen und den legefreudigen Hühnerkens, dass es hier Strom gibt, tja, das ist schon mal gar nicht selbstverständlich! Und viel Strom gibt's nicht -, nein, viel ist das nicht. Aber gut; es reicht. Es reicht immerhin! Und da soll man dann jedem einzelnen einen Brief schreiben!? Hier in diesen Bergen, zwischen all den Bäumen und die nächste Post eine halbe Stunde per Auto! Nein. Unmöglich! Und dann: Was kann ich dafür, dass Ihr alle so gute, liebe, nette, treue, spannende, hilfreiche Menschen seit! Werde eklig - behandle mich taktlos (es braucht nicht viel bei meinem mimosenhaften Charakter) und Du wirst künftig verschont von derartigen Geschreibseln -  so einfach ist das! Soll ich dafür büssen, dass ich auch Dich so gerne habe, so gerne mit Dir zusammensitze irgendwo in meinem Innern und Dir ein wenig vorplaudere von meiner Reise und so. Nein. Das ist nicht recht!

Gott ja, ich müsste schlafen. Es ist sicher schon drei vorbei. Aber ich kann an mir rumdoktern so viel ich will, kann mich beschwatzen und ermuntern: ich bin ein Nachtvogel, ein Nachtmensch, da kann Rudolf Steiner noch so viel gesagt haben über die Wichtigkeit des Schlafes vor Mitternacht und so. Ich versuche mich ja immer wieder einmal dem üblichen Schlaf- und Wachrhythmus unserer Zivilisation anzupassen, aber irgendwie ist das nichts für mich! Auch hier im Short Mountain Sanctuary im bergigen Hinterland von Nashville, Tennessee, wo Alles so sehr auf Natur und Natürlichkeit gestellt ist, klappt das nicht mit diesem Tag und Nachtrhythmus! Seit ich hier bin, seit zehn Tagen oder länger liege ich meist bis mittags um zwölf im Bett, verbringe dann zwei oder drei Stunden mit aufwachen, dann unterhalte ich mich mit den Menschen hier oder klöne über die Kälte oder geniesse die Sonne, spiele Flöte, lese oder schreibe einen der spärlichen privaten Briefe; dann gibt's Abendessen - immer sau gut! und sehr gesund! Nicht langweilig! Und dann, wenn die Andern ins Bett gehen, werde ich erst wach, lese, schreibe oder liege einfach in meinem Bett und luftschlössle vor mich hin!

Das Schloss, welches vor ein paar Stunden in Bearbeitung war beinhaltet die Reisepläne für die nächsten Wochen, denn ich denke, dass ich meine Zelte hier in ca. 8 Tagen - vielleicht auch schon früher - abbrechen werde. Ich will weiter ziehen in Richtung Californien; unterwegs mache ich vielleicht zwei oder drei Stopps, um wenigstens einen gewissen Eindruck vom Süden der USA zu kriegen. Ich will sicher ein oder zwei Tage in New Orleans sein, und danach - naja, man wird sehen. Morgen (d.h. heute, wenn ich endlich wach bin) werde ich mit James, einem Bewohner des Sanctuarys die Landkarte der USA und meine Servas-Adresslisten studieren, um die weiteren Aufenthaltsorte festzulegen; zu diesem Prozedere gehört auch ein Telefonat mit M-Track, den grössten Eisenbahnunternehmen in den USA, oder Greyhound, einem der grossen Überlandbusunternehmen, um herauszufinden, welche Verbindungen überhaupt möglich sind.

Montag, 3. Februar 1997, Abends: Inzwischen habe ich das eben gesagte getan, habe einmal mehr sehr gut gegessen und bin nach dem "Familientreffen",an welchem hier jeden Montagabend Gemeinschaftsangelegenheiten diskutiert werden, noch ein wenig in der Küche hängen geblieben: Gespräche über Gott und die Welt und dazu einen hervorragenden Apfelstrudel!

Ja. Ich will in den Westen, um dort, an einem wärmeren, etwas Komfortableren Ort Zeit und Ruhe zum Schreiben zu haben. Hier lebe ich immer noch mit der Idee, mich "einbringen" und interessieren zu sollen, merke jedoch mehr und mehr, dass ich dies eigentlich gar nicht will, da ich reichlich "Material" in mir habe. Bevor ich dieses nicht ein wenig verdaut, ein wenig be- und verarbeitet habe, bin ich an Neuem eigentlich gar nicht besonders interessiert. Statt äusserer Abenteuer stehen  für die nächste Zeit also innere Arbeit und Ruhe auf dem Programm. Ich habe zwar eine Idee, was diese innere Arbeit ist, doch solange es mit der Schwangerschaft so unsicher ist, will ich darüber lieber nichts schreiben.

Ja und sonst, fragt ihr vielleicht. Was hast Du sonst so erlebt? Wie war's auf dem Schiff? Und wie war's in New York und ...

Das Schiff. O ja. Das war schon etwas Besonderes. Ein Riesending - 220 Meter lang -, mit einem sechststöckigen Aufbau hinten, sonst - fast auf der ganzen Länge des Schiffes - Container, Container, Container. Container im Schiffsrumpf und Container auf Deck. Zu hinterst sechs übereinander, dann nach vorne hin abnehmend fünf, dann vier, dann drei. Von unserem Tisch in der Messe, in der Richard, mein "Begleiter", der Kapitän und ich dreimal am Tag assen, sah man die blau rot gelbe Wand der Container, und nur wenn man sich ganz dicht ans Fenster stellte, konnte man weit oben etwas Himmel und links und rechts etwas Meer sehen. Vom Fenster meiner Kabine - luxuriöse Einzelkabine mit Kühlschrank, Video, eigenem Bad etc. - hatte ich dagegen freien Blick aufs Wasser und, wenn wir an Land waren, auf die Hafenanlagen.

Entgegen den dramatischen Vorhersagen verlief die Überfahrt äusserlich gesehen sehr ruhig; wir hatten ein oder zweimal ein wenig Seegang, sodass das Schiff etwas zu stampfen begann. Meist war das Meer jedoch so still, dass man auf dem grossen Kahn überhaupt keine Bewegung mehr wahrnahm. Das war etwas Schade, denn ich hatte mich auf die prognostizierten Stürme doch so sehr gefreut. Nach dem, was der Kapitän dann allerdings über eine Überfahrt vom vergangenen Januar erzählte können die Winterstürme auf dem Atlantik jedoch auch für Schiffe dieser Grösse sehr brutal werden, sodass ich mein grosses Touristenmaul etwas in die Kur nahm und weniger laut nach Sturm und Wellen rief. Als Entschädigung für die nicht gehabten Stürme war das Wetter dafür ausgesprochen schön, sonnig und mild, oft 10 und 15 Grad oder mehr. Die Stimmung der Besatzung war weniger heiter: Viel Ärger und Fluchen und Bitterkeit; eine brutale Schlägerei am Neujahrsabend mit darauffolgender fristloser Kündigung - erst in New York vollzogen, nicht auf hoher See natürlich! Dazu ein sehr interessantes Dreiklassensystem: Deutsche an der Spitze (die Rederei ist - noch - deutsch), Russen im mittleren Kader und Tuvalus als Unterschicht. Von Matrosenfröhlichkeit und Seemannsromantik war nur relativ wenig zu spüren, am ehesten noch bei den Tuvalus, den Bewohnern einer kleinen Inselgruppe im Südpazifik etwa auf halben Weg von Hawaij nach Australien, in der Nähe des Äquators. Die Tuvalus gehörten früher zu den Gilbert-Islands; sie sind erst seit 1978 ein eigenes Land - knappe zehntausend, auf acht oder neun Inseln lebende Einwohner und in Vielem noch ziemlich idyllisch, wie mir unser Bootsmann erzählte.

Die Reise dauerte rund 14 Tage, wobei ich einen Tag im Hafen von Laspezia sowie zwei Tage in Fos sur Mère, Marseille, und einen weiteren Tag im Hafen von Valencia, Spanien zubrachte. Auf dem Atlantik waren wir insgesamt 8 oder 9 Tage. Dabei haben wir während der ganzen Zeit kein anderes Schiff und kein Land gesehen. Die Azoren haben wir bei Nacht passiert und am folgenden Tag war die Sicht so schlecht, dass sie bereits wieder ausser Sicht waren ... (bricht an dieser Stelle ab, wurde vermutlich nie abgeschickt. MN 2006).