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An Elisabeth und Peter S., im Juni 1991

Da scheint der Wurm drin gewesen zu sein: zuerst hab ich keine Zeit, dann sind Sie weg, dann bin ich wieder fort, dann ... und die Sablés warten derweil geduldig im Tiefkühlfach und fragen sich, wo ihr Esser bleibt. Wenn der Wurm inzwischen bloss nicht auch in sie übergesiedelt ist.

Es tut mir wirklich Leid, dass wir uns in diesem Winter und Frühjahr so hartnäckig verfehlt haben. Ich habe irgendwann im März oder April ein paar Mal versucht, Sie zu erreichen, hab's dann wieder vergessen und später schien die Zeit immer zu fehlen. Ich war wohl noch nie so viel unterwegs wie in den letzten Monaten, und wenn ich hier war, dann schien die Zeit auch nur immer für das allernotwendigste zu reichen. ... Sie sind inzwischen sicher in Vitznau und geniessen ... den Regen? ... die Sonne? - Man muss in diesem Jahr, was das Wetter angeht, ja einigermassen flexibel sein! - Ich habe Gestern, auf den Spuren Paul Geheeb's wandeln und nach seinen Spuren suchend, noch einmal einen ganzen Tag im Genfer Staatsarchiv zugebracht; heute scheine ich endlich so etwas wie Ferien zu haben: kein Rumreisen mehr, keine Sitzungen und Besprechungen, keine Termine. Nur hier sein, ein wenig aufräumen, ein wenig lesen, ein paar Briefe schreiben. Mitte nächster Woche werde ich sogar richtig in die Ferien fahren: zuerst für ca. 8 Tage nach Thüringen (in die Rhön), danach noch einmal 8 Tage nach Österreich. Gegen Ende Juli bin ich wieder in Basel, schon jetzt gespannt darauf, was wohl die zweite Jahreshälfte bringen wird.

Damit Sie sehen, was mich u.a. so in Atem und auf Achse hält, schicke ich Ihnen mein jüngstes Kind, die Zeitung "Endlich". Sie ist zu Beginn dieses Jahres entstanden, Produkt eines relativ schnellen Entschlusses, an dem ich wesentlich beteiligt war. Als Vaters des Gedankens bin ich jetzt natürlich einigermassen dafür verantwortlich, dass das Kind innerlich und äusserlich auch gut gedeiht, wobei ich plötzlich auch meine geschäftliche Ader (Erbe von meiner Mutter Seite) entdecke. ... Was aus alle dem wird, ist noch ungewiss und das, was ich davon halte, ist ebenfalls schwankend. ...

Meinen Eltern scheint es gut zu gehen. Im Mai waren sie mit einer Reisegruppe auf der Seidenstrasse, meine Mutter als Reiseleiterin, mein Vater als einfacher Teilnehmer. Jetzt, im Juni, haben sie sich irgendwo im Mittelmeer von der Strapaze erholt. Wirklich gesprochen habe ich sie seit April nicht mehr, doch die Kartengrüsse und das, was ich hin und wieder durch die Grossmutter in Kriens erfahre, klingt erfreulich. Thomi ist zusammen mit seiner Frau, Regula, und den beiden Buben seit einem Jahr in Zweisimmen. Er ist im dortigen Spital und im Spital von Gstaad Anästhesist. Werner, da ja vor ca. 2 Jahren seine Schreinerlehre beendet hat, hat im vergangenen Herbst seine eigene Werkstatt eröffnet, und er scheint bereits daran zu denken, einen ersten Teilzeitangestellten einzustellen. Dass er im vergangenen Oktober ebenfalls Papi geworden ist, wissen Sie vielleicht schon.

Und bei Ihnen? Wie geht's den Schultern, den Augen, den Ohren, den Herzen? Wie geht's der grossen Familie, den Freunden? - Ich hoffe, Sie beide sind wohlauf, gesund und zufrieden. Ob wir uns in diesem oder im nächsten Jahr noch sehen?

Viele herzliche Grüsse an Sie und an das liebe Vitznau mit all seinen Erinnerungen an warme, sonnige Tage, friedliche und böige Segeleien, gutes Essen, tagelange Monopoly-Orgien, erbitterte Jass-Gefechte (mit gezinkten Karten!), gemütliche Vorlesestunden vor dem Feuer ("Die Turnachkinder im Sommer" ...), Schwimmen, Pepita, Salzmandeln, nasses Ölzeug, Paganini's 1. Violinkonzert, das heisere Keuchen der alten Gallia, orange-rote, blau und schwarz durchzogene Sonnenuntergänge, Gewitterregen, lachende, freundliche Gäste ... Ja! Viele herzliche Grüsse und vielen Dank für die vielen Wochen, die ich bei Ihnen habe zubringen dürfen, und für die vielen, damit verbundenen, so schönen Erinnerungen!