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An Freunde und Familie, im Dezember 1997

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, liebe Verwandte und Bekannte nah und fern! Vor zwei Jahren habe ich erstmals einen weihnächtlichen Rundbrief verfasst und in die Welt geschickt, und jetzt, wo es schon wieder mit Riesenschritten gegen Weihnachten und gegen das Jahresende zugeht, will ich dies wieder tun.

Ich nehme an, dass all die Festlichkeiten, die Unruhe und die Umstände dieser besonderen Tage längst hinter Euch (und mir) liegen, wenn dieser Brief bei Euch eintrifft, denn - das weiss ich doch inzwischen: Die Realisierung eines Unternehmens dauert - jedenfalls bei mir - immer viel viel länger als ich mir dies in meinem jugendlichen Gemüte vorstelle! So verhält es sich ja auch mit dem Briefschreiben, mit dem Anrufen und dem Besuchen: Wie  oft denke ich zB an Angelo S. oder Eric J. oder an meine Cousine M. mit Familie oder an Helmar und Evelin oder an ... - ich denke an Euch, bin gewissermassen schon beinahe zu Besuch bei Euch, und in "Wirklichkeit" fehlt andauernd die Zeit oder die "richtige Stimmung" und "Verfassung", denn ich will ja solche Dinge nicht einfach so tun, nur damit ich die entsprechenden Posten auf meiner Pflichten- und Projektliste abhaken kann! Dafür seid Ihr mir doch zu lieb und wichtig! ... Nun ja. Ihr kennt dieses Gefühl sicher: Innerlich sind wir irgendwie immer weiter und immer irgendwo anders als äusserlich! Innerlich leben wir tausend Leben, und äusserlich - nun, da kommen wir mit Einem geradeso durch!

Nun aber genug des Vorgeplälkels. Ich möchte Euch ja ein wenig von mir, dem Innern und äusseren Auf und Ab und Hin und Her meines Lebens erzählen - möchte dies vor allem für Euch, mit denen ich sonst nie oder nur ganz spärlichen Kontakt habe, tun. Ihr andern, die Ihr während der letzten zwei Jahre vielleicht mehr von mir mitgekriegt habt, als Euch lieb ist - Ihr könnt diesen Brief ja einfach  zum Altpapier legen oder in irgendeinen Ordner verstauen, an dessen Inhalt man sich dereinst im Alter zu ergötzen hofft!

Die letzten zwei Jahre! - Nun, das kann ich zu allererst sagen: Für mich waren es zwei sehr erfüllte und gute Jahre! Das Leben hat es seit meinem letzten Rundbrief im Dezember 95 ausgesprochen gut mit mir gemeint. Dabei hat es mich nicht nur äusserlich verwöhnt, nein, es hat mir auch beigebracht, alles, was ich habe, mehr zu geniessen und mehr zu schätzen! Günstige äussere Umstände und eine wachsende Fähigkeit, mich an diesen zu freuen ist also seit einiger Zeit meine Lebensluft!

Äusserlich steckte ich vor zwei Jahren ja noch ganz im Schreiben meiner Diss. Im Februar 1996 war der Text im Grossen Ganzen fertig, musste dann aber noch korrigiert und hie und da redigiert und ergänzt werden. Im Juni musste ich dann noch - im Rahmen der mündlichen Prüfungen - über mein Thema Auskunft geben, und  danach wurde ich mit Glanz und Gloria zum Doktor phil.  gekrönt. - Mit Glanz und Gloria -, ja: Wider Erwarten habe ich für meine Arbeit die beste Note gekriegt, die man bei solchen Gelegenheiten erhalten kann -, und - wider Erwarten - habe ich mich dadurch enorm gepauchpinselt gefühlt -, "wider Erwarten" sage ich, weil ich doch schon bald 20 Jahre meines Lebens damit zugebracht habe, die Fragwürdigkeit und Hohlheit unseres ganzen Bildungssystems aufzudecken und  anzuklagen, - und nun lasse ich mich von genau diesem System so leicht kaufen ... – Fragment, nie weitergeschrieben oder abgeschickt, M.N. 2006