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An Freunde und Familie, im März 2006, USA

Hallo ihr Lieben! Vor zwei Monaten habe ich Euch von meinem herbstlichen Kurztrip nach Indien, von meinen Gesprächen mit Vicky und der überraschenden Reiseunlust erzählt, die mich dort trotz Sonne und viel herzlicher Ausgelassenheit ergriffen und via Japan vorzeitig an die Gestade der Vereinigten Staaten gespült hat. Ich dachte damals, es würde keinen weiteren Rundbrief geben, denn mein hiesiger Aufenthalt schien mir kein besonders ergiebiger Stoff für einen exotischen Reisebericht. Tatsächlich gibt es hier keine Kamele und keine Fahrrad-Rikschas, und ich habe auch noch mit niemandem über die nächtlichen Geister gesprochen, von denen die indischen Dörfer erfüllt sind. Oberflächlich gesehen sind die USA ein Land wie ... nein, nicht wie „jedes andere", aber doch ein Land wie wir es selber kennen: Modern, scheinbar aufgeklärt, westlich orientiert – weder besonders romantisch, noch besonders exotisch oder farbenprächtig. Mittlerweile habe ich jedoch festgestellt, dass auch die USA einen Bericht wert sind, wenn dieser auch etwas anders ausfallen dürfte als meine bisherigen Briefe von unterwegs. Deshalb also: Hello and welcome! Hier ist mein USA-Report.

Nach vier interessanten Tagen in Japan, wo ich in der Nähe von Sendai einen Freund besucht und dabei eine Sushibar, ein Erdbeben, ein japanisches Haus mit Closomat, kniehohem Esstisch, Foutons zum Schlafen und Reisstrohmatten als Fussboden erlebt habe, bin ich am 18. Dezember 2005 gesund und unbeklaut in Sanfranzisco angekommen. Der Beamte der meine Papiere prüfte war freundlich, die Prozedur kurz. Zwei Daumenabdrücke und drin war ich ... in den USA und in irgendwelchen ominösen Datenbanken.

Während der folgenden sechs Wochen sass ich fast täglich zehn, zwölf oder vierzehn Stunden in der Küche meiner Freundin Amie in Davis, Kalifornien, wo ich geschrieben, gelesen, nachgedacht und recherchiert habe. Es war genau die Art von Klausur, die ich mir in Indien gewünscht hatte: Ruhig und  komfortabel, warm und via Telefon und Internet andauernd mit der Welt verbunden.

Ende Januar unterbrach ich meine Schreiberei für ein paar Tage. Ich fuhr für vier Tage zu einer Uraltfreundin in San Diego (im Süden von Kalifornien). Auf dem Rückweg nach Davis besuchte ich Dan Kish, den „Fledermausmann", sowie einige weitere Bekannte und Freunde in und um San Franzisco. Gegen Ende Februar habe ich mich schliesslich auf den Weg nach Eugene und Portland (beides in Oregon) gemacht, und bin jetzt an der Ostküste, wo ich bis zu meinem Rückflug am 18. März noch ein paar Tage in New York, im New Yorker Hinterland und in Boston sein werde.

Alle extravaganten Dinge, die ich mir ursprünglich für die USA vorgenommen habe, habe ich fallen lassen: Ich war weder in Steven Harrisons „Living School" in Boulder, Colorado, noch in  Chris Griscoms „Mizhoni School" in Galisteo, New Mexiko, noch in einer der anderen „alternativen" Schulen, die ich mir hier ansehen wollte. Bis jetzt habe ich auch keinen Kontakt mit John Taylor Gatto, Jonathan Kozol oder einem der anderen Schulkritiker aufgenommen, die ich eigentlich besuchen wollte und über die ihr im Bedarfsfall via Google mehr erfahren könnt. Ich habe gemerkt, dass mir das, was ich hier im Gespräch mit meinen Freunden und deren Bekannten und im Rahmen meiner schriftstellerischen Schreib- und Grübelarbeit erlebe vollauf ausreicht. Mein Kopf und mein Herz sind voll, und obschon es Schade ist, diese Gelegenheiten alle auszulassen, ist mir mehr nach Verdauen als nach weiteren Fragen und Diskussionen zu Mute!

Ich bin bereits seit längerem daran, meine kritischen Gedanken zum Thema „Schule" und meine eigenen Vorstellungen von einer lebendigen Bildungslandschaft zu Papier zu bringen oder besser auf die Festplatte zu bannen. Schreiben ist für mich allerdings immer eine turbulente Angelegenheit, und so trieb ich auch diesmal bald wie ein Schiffbrüchiger auf einer stürmischen See von aufwühlenden Gedanken und Themen, deren auf und ab und hin und her mich zwischendurch scheinbar weit ab von meinem eigentlichen Projekt gebracht haben. Statt meinem ursprünglichen Konzept zu folgen und in systematischer Weise über die Entstehung des modernen Bildungswesens, über die ihm gegenüber von Anfang an bis heute geäusserte Kritik, seine aktuellen Probleme und über konkrete Möglichkeiten ihrer Lösung zu schreiben, wurde ich immer mehr zum Spielball des „kreativen Prozesses", wie man so etwas wohl nennt. So wie Kolumbus, der nach Indien segeln wollte und dabei Amerika entdeckte, bin ich auf meiner Reise auf ein Gewirr mir ganz unbekannter Inseln und Halbinseln gestossen, die scheinbar nichts mit dem zu tun haben, worum es mir ursprünglich ging. Statt über die Schule und die in ihr praktizierte Erziehung zur Bravheit und über Alternativen zu diesem fatalen Modell zu schreiben, schrieb ich über die Furcht des Menschen vor seiner eigenen Freiheit und über die Logik des Kapitalismus, in dem alles – unsere sozialen Beziehungen, die Erde mit all ihren Gütern, unser Lachen und Weinen, unsere Ängste und Freuden, unsere Abenteuerlust, unsere Einsamkeit, unsere Neugier und unsere Gesundheit, unser Lernen- und Begreifenwollen – zu einem Geschäft gemacht, in Güter und Serviceleistungen verwandelt und verwertet werden. Ich stöbere im Internet und in der elektronischen Bibliothek, die sich  an Bord meines Laptops befindet, nach Literatur, die mir diesen Rätselhaften Vorgang der Selbstzerstörung erklären hilft. Der Mensch – ein Opfer seiner selbst. Das „bessere Leben" als tödlicher Feind des „guten Lebens"? Ich lese ein wenig in Erich Fromms „Sane Society", in Adam Schaffs „Entfremdung als soziales Phänomen" und in ähnlichen Texten; ich stöbere in Wikipedia, der „freien (Online)-Enzyklopädie" und surfe durch allerlei anarchistische und marxistische Seiten, um endlich zu begreifen, weshalb wir Menschen bei all unserer Vernunft und unserem guten Willen insgesamt so dumm und unvernünftig scheinen. Ich bedaure, nicht mehr solides Wissen über ökonomische und politische Theorien und Zusammenhänge zu haben. Die Welt gerät immer mehr ins Trudeln, ohne dass wir zu begreifen scheinen, was eigentlich los ist. In unserer Hilflosigkeit beschränken wir uns auf irgendwelche Teilreformen und –reförmchen oder ziehen uns ganz in unser Privatleben zurück, drehen die Stereoanlage auf und warten, bis das Schiff untergeht.

Meine Stimmung an Amies Küchentisch ist grimmig. Auf einem meiner Suchläufe durch das Internet stosse ich plötzlich auf das Problem des zunehmenden Medikamentenkonsums in unseren Schulen: Sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene scheinen ihren Arbeitsalltag immer öfter nur noch mit Hilfe von Drogen aller Art überstehen zu können. IN den USA gibt es Schulen in denen rund 30% der SchülerInnen regelmässig Ritalin oder ein anderes Psychopharmaka einnehmen, wobei die Zahlen sich seit Mitte der 1990er Jahre nicht nur hier, sondern auch in den meisten europäischen Ländern vervielfacht haben. Novartis, die Herstellerin von Ritalin, gibt mittlerweile gemäss einem WoZ-Artikel vom Oktober 2005 keine Verkaufszahlen mehr bekannt; man will sich das Geschäft offenbar nicht durch einen Skandal verregnen lassen. Die Einnahme der Medis scheint in einigen Fällen berechtigt und vernünftig, in der Mehrzahl aller Fälle geht es schlicht darum, Menschen ruhig zu stellen, die sonst stören würden; zu dem Zweck werden immer neue psychiatrische Begriffe und angebliche Krankheitsbilder erfunden; was früher ein Eigenbrödler war ist jetzt ein Mensch mit „communication disorder" und die Zappelphilippe vergangener Zeiten sind zu Kindern mit „Attention Deficit Disorder" geworden und müssen entsprechend behandelt werden. Die Maschine fordert ihren Tribut!

In Indien kann man eine halbe Stunde später zur Arbeit kommen, ohne dass der Chef Kopf steht, man kann zwischendurch eine Tasse Tee trinken oder für zehn Minuten im Laden eines Freundes untertauchen und mit ihm ein Schwätzchen halten ... Der Westtourist ist vielleicht etwas befremdet über die scheinbare Ineffizienz mit der Geschäfte abgewickelt werden und er ärgert sich darüber, dass man ihn scheinbar grundlos fünf oder gar zehn Minuten warten lässt. Er ist stolz darauf, dass so was in seinem Land nicht vorkommen würde ... dafür steigt sein Blutdruck schon beim blossen Gedanken an die Schule oder an sein Büro. Ein Inder, der schon lange in den USA lebt, sagt mir Anfang März in New York: „Wenn Menschen aus Indien in die USA kommen, dann sind sie zuerst fasziniert und begeistert. Es ist, wie wenn ihre Träume plötzlich in Erfüllung gehen. Aber nach 6 oder 8 Monaten merken sie es. Sie werden nervös, sie fühlen sich unwohl. Es ist, wie wenn sie immer ein wenig zittern ... Es ist die Anspannung. Der Stress."

Die Sache mit den Medikamenten ist in den USA in den letzten Jahren so schlimm geworden, dass die Regierung in Washington im vergangenen Juli ein Gesetz erlassen hat, das SchuladministratorInnen und LehrerInnen verbietet, Eltern dazu zu zwingen, ihren  Kindern Ritalin und ähnliche Drogen verschreiben zu lassen. Ich weiss nicht, wieviel Psychopharmaka die Menschen in Indien schlucken und wie es dort mit der Selbstmordrate bestellt ist -, doch was uns angeht, so sind die Zahlen beunruhigend!

Im Zug von Sanfranzisco nach San Jose sitze ich neben einem Computerspezialisten aus Santo Domingo. Er erzählt mir von der dortigen Armut: Diese sei nach wie vor gross. Aber er habe das Gefühl, dass es den Menschen in der dominikanischen Republik im Grunde dennoch eher besser gehe als den Menschen in den USA. Auf meine Frage, weshalb er das glaube, sagt er, „sie lachen viel mehr. Sie haben Humor. Sie können total pleite sein und ein wirkliches Problem haben, aber sie verlieren den Humor nicht. So etwas wie Selbstmord gibt es dort einfach nicht". Das klingt schön. Es erinnert mich daran, dass ich mich vor allem während der ersten Wochen in den USA oft nach Indien zurückgesehnt habe, weil dort alles irgendwie fröhlicher und entspannter scheint. Doch fürs Geschäft ist diese naive Zufriedenheit natürlich schlecht. - Ich möchte nicht wissen, wie tief der Absatz von Ritalin in Santo Domingo ist! Hoffentlich haben sie wenigstens  Fernsehen, damit sie allmählich begreifen, dass sie gar nicht zufrieden sind ...

Vom Medikamentenkonsum geht meine Reise weiter zum Thema der Werbung, durch welche uns nicht nur Güter, sondern auch Lebensstile und Schönheit, Kraft und tausend andere Ideale aufgeschwatzt und untergejubelt werden. Das Thema ist unangenehm. Ich komme mir vor wie ein Kriegsberichterstatter. Tatsächlich sprechen wir ja ganz selbstverständlich von „Werbefeldzügen" und „Marketing-Strategien", von Märkten, die „erobert" werden sollen oder „verteidigt" werden müssen. Der kriegerische Wortschatz ist kein Zufall. Amie berichtet mir an einem Abend, dass sie kürzlich an einem Seminar eines ehemaligen Kampfpiloten der US Air Force mit dem Titel „Business is war" teilgenommen hat. Im Internet finde ich ein paar Wochen später eine ganze Reihe von Web-Seiten, auf denen über die Verbindung zwischen Business und Krieg philosophiert wird. Dabei kommt auch der berühmte preussische General Carl von Clausewitz zu neuen Ehren. In der Geschäftswelt scheint man über diese Verbindung nicht erschreckt. Warum auch, die Sache ist ja offensichtlich. "Business is war. Arm yourself."[1]

Auf der dauernden Suche nach neuen Möglichkeiten der Expansion gehören Kinder und Jugendliche heute zu den interessantesten Zielgruppen. Ich stosse auf immer mehr Material zum Thema Werbung in der Schule, Kinder und Kommerz ... Ich denke daran, wie unsere LehrerInnen für ihre Fächer „werben", und wie wir den Kindern in der Schule beibringen, auf diese Werbeaktionen und die damit verbundenen Versprechen zu hören: „Mach mit; es ist wichtig für Dich! Nur wenn du dies weißt und auch noch jenes lernst wirst du später Erfolg haben" ... Mag sein, ich mache mir die Dinge zu einfach, doch für mich liegt die Parallele auf der Hand: „Kauf dies, kauf das – mach mit, sei dabei! ..."

Meine Gedanken fliegen wie Herbstlaub durch die Strassen meiner Gehirnwindungen. Zwischendurch versuche ich schreibend etwas Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Der Schritt von der Werbung zum Fernsehen und zur zunehmenden Unwirklichkeit unserer Wirklichkeit liegt nahe: Fernsehkonsum als Droge ... in den 1970er Jahren eine Stunde täglich; heute bei Kindern und Jugendlichen in den USA und (West)-Europa je nach Art der Rechnung 3 bis 4 Stunden pro Tag. Dazu kommen Computer-Games und das Leben in den virtuellen Welten der Chatrooms und ähnliche Angebote. Die Auswirkungen auf die Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit von Kindern, die schon früh fernsehen, sind gravierend ... Ich lese, notiere, sammle. So Gott will (und Gilbert hilft) wird das ganze wirklich einmal ein Buch ... Die Titanic sinkt; wir amüsieren uns zu Tode.