www.martinnaef.ch / 1.2: Briefe > An Ingeborg L., im Juli 1991
.

An Ingeborg L., im Juli 1991

Liebe Ingeborg! Ich war bis Mitte letzte Woche für 14 Tage weg, in Urlaub. Seit ich wieder hier bin, bin ich am Aufräumen! Die Auswirkungen dieser Tätigkeit wirst auch Du zu spüren kriegen, da ich Dir mit derselben Post die mir geliehene Querflöte zurückschicke. Aber halt mal, eins nach dem andern.

Urlaub: Wir verbrachten zuerst einige Tage in der Rhön. In diesem Mittelgebirge im Schnittpunkt von Türingen, Hessen und Bayern hat Geheeb sich oft aufgehalten, wenn er sich von den Strapazen des Lebens erholen wollte, und ich hatte schon seit einiger Zeit vor, mir diese Gegend, von der er so geschwärmt hat, einmal etwas näher anzusehen. Die Gegend ist heute noch fast ebenso still und verlassen wie damals: einerseits war sie bis vor Kurzem zu einem beträchtlichen Teil Zonenrandgebiet, andererseits haben die Nazis 1938 mitten in der Rhön einen grossen Truppenübungsplatz eingerichtet, den die Amis nach 1945 übernommen haben. Dieses riesige, für jeden Durchgangsverkehr oder Tourismus gesperrte Gelände blockiert die Entwicklung der Rhön seit Jahrzehnten. Trotz (oder gerade wegen?)seiner Nutzung als Schiess- und Panzerübungsplatz überleben in diesem Gelände die seltensten Pflanzenarten und es wird von vielen Tieren bewohnt, die in den zivilisierteren Teilen Deutschlands kaum mehr Platz finden.

Nach den Tagen in der Rhön fuhren wir (immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln) weiter, besuchten Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Jena und Dresden. Wir konnten für ein paar Tage bei Bekannten meiner Eltern, die in der Nähe Weimars leben, wohnen, was nicht nur deshalb interessant war, weil sie uns viele gute Tipps für unsere Besichtigungstouren gaben. Sie erzählten auch viel über die Zeiten vor der Wende, über die Wende und über die Schwierigkeiten des Überlebens, mit denen sie und viele ehemaligen DDR-Bürger/innen heute konfrontiert sind. Dabei spielen bevorstehende Kündigungen, mögliche Arbeitslosigkeit und grosse Verschiebungen im Bereich von Besitz- und Nutzungsverhältnissen eine grosse Rolle. Auch im Gespräch mit anderen Menschen habe ich immer wieder erste Anzeichen von Nostalgie herausgehört: allgemein will man nicht mehr "zurück", vor allem jetzt nicht mehr, wo so viele Dinge ans Tageslicht kommen, von denen auch kritischere Geister vorher nichts wussten. Aber viele beginnen doch den früher als stärker erlebten Zusammenhalt unter den gewöhnlichen Menschen zu vermissen: "früher halfen wir einander, wo es nötig war, weil es eben auch oft nötig war; heute schaut jeder für sich. Ja, eine Ellenbogengesellschaft sind wir geworden, das merken wir schon jetzt", so wird häufig gesagt. Die Menschen schliessen ihre Häuser und Autos zu, etwas was vor allem auf dem Dorfe noch vor 2 Jahren ganz unüblich gewesen sei. Man beginnt auch wieder DDR-Produkte zu kaufen, da man allmählich gemerkt hat, dass die im Westen auch nur mit Wasser kochen, und dass z.B. im Bereich der Nahrungsmittel vor allem die Werbung im Westen besser war, nicht die Produkte selbst.

Der äussere Zerfall in den Städten ist zum Teil beträchtlich. In Rudolstadt spazierten wir beispielsweise durch eine sehr schöne Hauptstrasse. Autofrei, viele Geschäfte, viele gediegene alte Häuser. Der ganze Rest des alten Stadtkerns ist jedoch in trostlosem Zustand. Ganze Häuserreihen sind unbewohnbar, einsturzgefährdet oder bereits eingestürzt. In den meisten Häusern ist das Fachwerk faul, sodass sie eigentlich nicht mehr zu retten sind, selbst wenn nach und nach die Mittel und der Wille dazu vorhanden wären. Jena ist ein grosses Durcheinander: Verkehr, Baustellen, historische Gebäude in schlechtem Zustand neben irgendwelchen Versuchen, die Stadt durch moderne Architektur mit neuem Glanz zu versehen. Nichts scheint zu passen, aber alles funktioniert. Schön ist der Park an der Saale oder der "Landgraf", ein stiller, bewaldeter Hügel mit Aussichtsturm und Restaurant ausser- und oberhalb der Stadt, von welchem aus man in 15 Minuten mitten im Getümmel steht. Ähnlich schön empfand ich die Lage der Wartburg oberhalb von Eisenach: obgleich in unmittelbarer Nähe der Stadt gelegen, steht sie doch eindeutig ausser- und oberhalb der Stadt. Die Wege zur Stadt hinunter führen durch reichlich Wald -, keine langweiligen Vororte, kein Verkehrsgetöse, keine Asfaltwüsten. Einige grosse, alte Häuser und schon steht man auf dem Markplatz der Stadt. Sehr idyllisch! Auf der stadtabgewandten Seite der Wartburg erstrecken sich Wälder, so weit das Auge reicht. Die Landschaft ist viel weniger zersiedelt als hier bei uns, kleinere Städte und Dörfer wirken erstaunlich kompakt und in sich geschlossen. Es gibt noch wirkliche Grenzen zwischen Stadt und Land, ganz so, wie's hier wohl noch vor 80 oder 100 Jahren war.

Renzo - der Freund, mit dem ich unterwegs war - war von Dresden eigentlich sehr enttäuscht. Es scheint, dass dort während Jahren nur sehr wenig gemacht wurde, um die alte Stadt wieder aufzubauen oder alte Gebäude zu erhalten. Stattdessen hat man fast wahllos neue, oft sehr öde Gebäude hingestellt, wo man welche haben wollte oder musste. Zerfallende historische Gebäude und geschmacklose billige Neubauten kreuz und quer durcheinander, so hat er mir Dresden geschildert. Die Semperoper, die von Innen ja sehr schön sein soll, wirkt von aussen wenig anziehend, der Zwinger ist (wie viele andere Gebäude nicht nur in Dresden!) eingerüstet, so dass man wenig von ihm zu sehen bekommt. Gerechterweise muss ich jedoch auch sagen, dass wir in Dresden schon ziemlich genug hatten von noch mehr Schlösssern, noch mehr Gallerien, Kirchen und Marktplätzen. Zudem war es an diesen Tagen ausgesprochen heiss.

Die 2. Woche unserer Ferien wollten wir uns auf Rügen erholen. Wir dachten an eine ruhige Bleibe, an Wandern und Schwimmen, an Ausschlafen etc.. Leider hat das nicht ganz geklappt, da es uns nicht gelungen ist, diese ruhige Bleibe zu finden. Wir sind auf gut Glück hingefahren und hatten nur relatives Glück. Man hatte uns immer wieder gesagt, dass wir auf Rügen jedenfalls etwas ruhiges finden würden, dass Rügen in diesem Jahr wenig Tourismus habe etc.; leider stimmte dies nicht. Zwar sind viele der ehemaligen Betriebs- und Erholungsheime zur Zeit geschlossen, doch der touristische Rummel ist dennoch (zumindest für meinen Geschmack) beträchtlich. Ohne Auto ist es uns jedenfalls nicht geglückt, innert nützlicher Frist genau das kleine Idyll zu finden, nach dem wir uns sehnten. So sind wir auch auf Rügen von Ort zu Ort gezogen, haben dadurch zwar nicht die gewünschte Ruhe gefunden, aber dafür wiederum ziemlich viel von der Insel gesehen und kennengelernt. Nach 5 Tagen hatten wir dann aber doch genug und sind in ziemlich direkter fahrt (mit Übernachtung in Hamburg) nach Basel zurückgekehrt ...

Hier scheint in einem grossen Berg von Post auch etwas von Dir zu stecken. Was? - Ich weiss es nicht und zur Zeit ist auch niemand da, der mir vorlesen könnte. Urs sitzt zwar in seinem Zimmer nebenan, da er jedoch morgen die letzte Prüfung für sein Biologiediplom hat, ist er kaum ansprechbar. (...).