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An Marthe B., 12. März 1997, Ojai, Kalifornien

Liebe Marthe! Deine verehrte Schwester von und zu Hasliberg hat mir heute verraten, dass Du demnächst Geburtstag hast! 65 Jahre jung! Dabei denke ich immer, dass Du doch nicht viel älter als 40 sein kannst, wenn Du so wach und fragend, halb schüchtern und halb schelmisch in die Welt kuckst! Meine Vernunft weiss natürlich - und sie klärt mich andauernd erneut darüber auf -, dass das mit den 40 Jahren rein mathematisch nicht hinhaut, es sei denn, ich wäre 17, und das kann ich aufgrund der Erfahrungen, die ich jeden Tag mit mir mache, beim besten Willen nicht glauben. Auch besitzt Deine ob genannte Schwester im Allgemeinen  ja einen guten Sinn für Zahlen! So wird es sich wohl um Deinen 56. Geburtstag handeln - vielleicht auch ein Jährchen mehr. In jedem Fall trete ich an, um zu gratulieren!

Ich hoffe, dass Du diesen besonderen Tag auf besondere Weise verlebst - mit Familie oder Freunden oder ganz für Dich -, jedenfalls froh und mit möglichst wenig Bedauern! Du merkst schon, das ist nicht nur ein harmloser Geburtstagswunsch -, das ist schon eine richtige Aufgabe! Wirklich! Es ist eine Aufgabe - nicht nur an unseren Geburtstagen oder bei sonstigen, ausserordentlichen Anlässen, sondern jeden Tag! Wie viel Grund haben wir doch eigentlich immer, froh und dankbar zu sein, und wie oft kramen wir stattdessen ganz verbohrt und unbelehrbar in irgendwelchen Misslichkeiten herum - als ob wir uns nicht von dem Moder der Dreckwäsche lösen können, sondern unsere Nase unentwegt in ihr Spazierenführen müssen! Und dann beklagen wir uns über den Mief, der uns da belästigt.

Natürlich hat man immer was zu jammern - und für Trauer und Schmerz soll Platz sein! Immer! -, aber haben wir nicht auch tausend Gründe zu danken und uns zu freuen! Und wenn das "grosse Glück", auf das wir manchmal so besessen warten, nicht kommen will, müssen wir deshalb missmutig an all diesen Dingen vorübergehen? Ich schreibe "wir", aber ich spreche natürlich von mir und meinen Versuchen, in diesem Bereich ein paar alte und liebe Gewohnheiten abzulegen. Dass ich viel Grund zur Dankbarkeit - Dankbarkeit gegen mein Schicksal, meine "Gebufrt" - habe, ist mir in den letzten Monaten immer wieder sehr deutlich geworden. Nicht nur, dass ich hier wie ein Prinzensohn vergangener Jahrhunderte auf meiner grossen Bildungsreise bin, während andere für mich malochen! Nein: Ich denke z.B. auch an meinen so gesunden, wenig anspruchsvollen, dienstfertigen und tüchtigen Körper! Ausser hie und da mal eine verstopfte Nase oder ein kleines Stechen in diesem oder jenem Knie (speaking of age!!!) habe ich nie irgendwelche Schmerzen, keine Allergien, keine Stoffwechselprobleme oder was der tückischen Dinge mehr sind, mit welchen so viele Menschen zurechtkommen müssen.

Das fiel mir während der letzten Monate ein Paar mal auf: Einmal, als ich meine Freunde in New York State besuchte. Da ist Bill - ein oder zwei Jahre älter als ich -, der eine chronische Erkrankung der Wirbelsäule hat. Wenn er nicht täglich mindestens zwei oder drei Stunden lang bestimmte körperliche Übungen macht und sich an eine ziemlich rigide Diät hält, verkalkt die ganze Wirbelsäule so, dass er sie innerhalb von ein paar Monaten oder Jahren überhaupt nicht mehr bewegen könnte. Es handelt sich um irgendeine Variante von Arthrose oder Arthritis. Dabei ist er schon jetzt nicht beschwerdefrei: Durch die Übungen und die Diät verlangsamt er bloss die Verkalkung. Dann habe ich in Tennessee, in der schwulen Landkommune, drei oder vier Menschen getroffen, die seit ein paar Monaten wissen, dass sie HIV-positiv sind. Es wird zwar zur Zeit viel von einer neuen Medikation gesprochen, welche den Zerfall des Immunsystems wesentlich zu verlangsamen scheint, doch bedeutet dies (wenn man zu der Behandlung überhaupt ja sagt), 20 Pillen mehrmals pro Tag ohne zu wissen, ob sie langfristig wirklich helfen und ohne zu wissen, welche Langzeit Nebeneffekte sie eventuell haben. Man hofft natürlich, dass die Nebenwirkungen "im Rahmen" bleiben, doch wollte man den Cocktail möglichst schnell auf den Markt bringen, sodass man keine unendlich langen Tests gemacht hat. (Dieser "Cocktail" ist im Übrigen eine derart teure Sache, dass nicht jede oder jeder Betroffene ohne weiteres darauf Anspruch hat. "Geholfen" ist also, falls überhaupt, primär den Menschen in den reicheren Ländern). Viele Andere, die mir hier begegnen, haben andauernde Geldsorgen, leben auf der Strasse oder sind völlig bekümmert wegen eines total abgestürzten Angehörigen etc..

Interessant ist allerdings wirklich, wie unabhängig von solchen "Äusserlichkeiten" das Glück der Menschen zu sein scheint: Die einen sind völlig elend, obschon sie dazu, äusserlich gesehen, gar keinen Grund haben, und andere sind völlig heiter und lebensfroh, obschon sie (nach unseren gewöhnlichen Vorstellungen) den ganzen Tag deprimiert im Bett liegen müssten. Umso mehr müsste es doch mir glücken, den ganzen Tag froh und zufrieden zu sein! Das übe ich also!

Ich übe es, indem ich versuche, mich möglichst an all den schönen Dingen zu freuen, die ich auf meiner Reise ständig erlebe: Meine Freunde in Houston, Texas - alte Bekannte von der "Ecole", bei denen ich vier Tage war -, die zwei schönen Wochen in San Diego bei Cathrin. Sie (ebenfalls eine indirekte Ecole-Freundschaft) wohnt drei oder vier Häuser vom Strand des Pazifiks entfernt in einem sehr angenehmen, belebten, aber noch sehr überschaubaren Teil von San Diego: Kleine Geschäfte, eine belebte Hauptstrasse mit vielen Cafés, einen langen, weit ins Meer Hinausführenden pier und viele gut gelaunte Menschen, die den Strand und die charmanten Strassen bevölkern.

Kalifornien hat seinen guten Ruf, zumindest was das Wetter angeht, wirklich verdient. Seitdem ich vor 5 Wochen hier angekommen bin - ich war zuerst in San Diego und bin seit Anfang März hier, in Ojai - seit ich also hier in Kalifornien bin hat es vielleicht zwei Mal ein wenig getröpfelt. Sonst ist es meist angenehm warm und sonnig. In Ojai, welches 20 km vom Meer entfernt liegt, ist es auch schon mal richtig heiss geworden, sodass ich mich von meinem Tisch unter dem Baum, an dem ich auch jetzt sitze und schreibe, in mein Zimmer geflüchtet habe, um dort weiter zu arbeiten. - Ja, das hast Du richtig gehört bzw. gelesen: Hier "arbeite" ich vor allem. Ich versuche (bisher leider ganz glücklos) ein wenig zu schreiben - natürlich wieder über Pädagogisches! Dazu lese und beschnuppere ich relativ viel, Fachliteratur und Anderes  (z.B. Hesse, "Mein Glaube"; Gardener, "The unschooled mind"; Krishnamurti, "Washingtoner Gespräche", lauter Dinge, für die mir sonst die Zeit oder Musse fehlt!). Schliesslich verbringe ich unerwartet viel Zeit damit, "internet-litterate", zu werden, d.h. ich habe mir einen Privatlehrer gesucht, der mich in die Struktur des Internets und in seine Handhabung einführt. Das hatte ich so nicht geplant, aber da das "Ojai Institut" als gemeinnützige Stiftung einen kostenlosen Zugang zum Internet hat, und da Michal, der mir ursprünglich ein paar Sachen vorlesen sollte, sich in diesen Dingen recht gut auskennt, habe ich meine Chance benützt, um mich mit einer Sache vertraut zu machen, die heute schon beinahe zu den Grundvoraussetzungen für irgendwelche akademischen Arbeiten gehört, und die darüber hinaus zumindest hier in den USA bereits zu einer ganz neuen gesellschaftlichen Realität geworden ist: Das "global village", wie das Internet hier genannt wird, ersetzt immer mehr Tätigkeiten und Dinge, für welche man bisher ausser Haus gehen, ja vielleicht sogar eine grosse Reise unternehmen musste!

Ich kann mir an meinem PC nicht nur den Katalog der Library of Congress oder der französischen Nationalbibliothek in Paris anschauen, wenn ich auf der Suche nach bestimmten Buchtiteln bin. Ich kann mir auch das Programm der meiländer Scala oder den Katalog einer Ausstellung in Japan (mit samt Bildern und Musik) "herunterladen", sodass ich die Ausstellung geniessen kann, ohne mich von meinem Stuhl zu erheben. Wenn Du ein chinesisches Wort nachschlagen willst oder wenn Du wissen willst, wann Rafael gelebt hat -, kein Problem: Du spazierst auf den Tasten Deines PC zu einer Bibliothek mit Nachschlagewerken und findest, was Du suchst (wenn Du weisst, wo Du suchen musst!). Wenn Du Lust auf "persönliche Kontakte" hast, dann klinkst Du Dich in einen Gesprächszirkel ein, und wenn Dein PC nicht ganz veraltet ist, so hat er sogar ein kleines Mikrophon, was Dir ermöglicht, direkt mit andern Menschen zu sprechen, anstatt Deine Gedanken mühsam hinzuschreiben. Solltest Du übrigens einen billigen Flug nach Hawaii suchen oder Dein Sofa verkaufen oder wissen wollen, was in London oder New York zur Zeit gerade versteigert wird: Du schaltest nur Deinen PC an, drückst auf ein paar Knöpfe und Tasten und da ist alles, was Du zu Deinem Glück brauchst: Tippe Deine Kredit-Karten-Nummer ein und der Flug ist für Dich gebucht. Nur fliegen tut der PC nicht für Dich -, das musst Du, wenn Du tatsächlich auch physisch in Hawaii sein willst, noch selbst tun. Allerdings: Vielleicht klickst Du lieber eine Seite des Tourist-Office von Hawaii an und besuchst die wunderbaren Strände und das Landesinnere per Bildschirm, während im Hintergrund die Tagesschau flimmert. Alles möglich, wenn man nur ein wenig weiss, wie und wo!

Es geht mir mit dieser ganzen Sache wie mit so vielen Errungenschaften der Moderne: Ich finde sie faszinierend, unnötig und ganz beknackt. Mich ausgerechnet hier mit diesen Dingen zu befassen ist etwas seltsam - vielleicht auch ein wenig pervers -, denn Ojai (ca. 100 km nördlich von Los Angeles) gilt als so schön, dass man eigentlich den ganzen Tag irgendwo draussen sein und durch einen  Orangenhain oder eine Avocado-Pflanzung wandern müsste, statt sich den Kopf mit irgendwelchen "Hyperlinx" und "WWW-Homepages" vollquasseln zu lassen. Aber wie gesagt, mich fasziniert die ganze, für mich völlig neue Sache sehr -, nicht nur aus philosophischen Gründen, sondern auch als technisch-handwerkliche Herausforderung (es gibt da relativ viel zu lernen!) und wegen der inhaltlichen Möglichkeiten ... Ob ich es später tatsächlich viel brauchen werde, weiss ich nicht; aber es wird sich jedenfalls bezahlt machen, dass ich die ganze Geschichte einmal gründlich studiert habe und weiss, was man damit tun kann und wie man es tun muss. Doch genug davon!

Wie lange ich noch hier im "Ojai Institut" - einer Art Kurszentrum und Studienhaus für Krishnamurti-Fäns (zu denen ich nicht unbedingt gehöre)  - bleiben werde weiss ich noch nicht. Eventuell reise ich schon am 26. März weiter, denn dann müssen wir Langzeitgäste alle unsere Zimmer für drei Tage räumen, um einer Meditationsgruppe Platz zu machen. Ob ich danach noch einmal für 10 oder 14 Tage zurück komme, wird sich weisen. Der Ort hier ist sehr angenehm: freundliche Menschen, familiäre, unkomplizierte Art des Zusammenlebens, regelmässiges Essen, ein schönes Zimmer mit Sitzplatz, Küche, Bad und allem, was mein Herz begehrt; dazu eine gute technische Infrastruktur, zum Lesen und Schreiben und in mich gehen also sehr geeignet!

Im Verlauf des April werde ich dann eventuell nochmals in Richtung San Diego fahren, um dort ein paar Tage Katrins Befreiung vom Schuldienst (eine dramatische Rausschmissgeschichte!) feiern zu helfen und mit ihrem Freund ein wenig segeln zu gehen, falls er sein Boot bis dann wieder zusammengebaut hat! Danach mache ich mich dann auf in Richtung Norden, nach San Jose (bei San Francisco) und Oregon, wo ich diverse Freunde besuchen will. Ob es noch für ein paar Wochen Stadtleben in San Francisco reicht (daran hatte ich eine Weile ja auch gedacht), weiss ich jetzt noch nicht. Eventuell geht es dann auch schon weiter - entweder westwärts über den Pazifik (eine eher junge, neue Idee!) oder zurück an die Ostküste und Europa. Da ich nicht fliegen will, sondern mir vorgenommen habe, nach Möglichkeit mit einem Segelboot zurückzukommen, kann die "Heimreise" ohne weiteres drei oder vier Monate dauern! Im Falle des Pazifiks würde auch das nicht reichen, sodass ich bei dieser Variante wohl schliesslich doch irgendwo - vielleicht in Singapore oder in Japan oder sonst wo - in ein Flugzeug klettern müsste, um heim zu kommen!

Du denkst vielleicht, ich sei verrückt geworden wegen der Segelei! Das dachte ich zuerst auch, als ich plötzlich auf diese Idee in mir gestossen bin und beschlossen habe, sie diesmal nicht als Unsinn oder als undurchführbar beiseite zu schieben! Segeln ist nämlich eine uralte Liebe von mir - uralt und riesengross! Ich war als Junge ja jeden Sommer in Vitznau und habe viel gesegelt!  Damals habe ich auch tausend Bücher von Weltumsegelungen und ähnlichen gelesen und mir immer vorgestellt, wie ich einmal auf einer solchen Jacht über die Meere fahren werde! Naja, und jetzt soll's also werden! Näher ran als hier in Kalifornien, wo die Menschen Geld haben und einen Pazifik vor der Tür - näher als hier werde ich diesem Traum vielleicht nie mehr kommen. Zudem traue ich es mir jetzt auch noch zu, während ich in 20 oder 30 Jahren dafür vielleicht zu klapprig bin! - Über den Pazifik oder den Atlantik zu segeln! -, das ist noch eine Stufe besser als das "Herumsurfen" auf dem WWW, dem "world wide web".

So. Jetzt ist aber genug geschrieben! Du hast ja sicher noch anderes zu tun, als meine Reiseberichte zu lesen! Wenn Du magst, dann schick den Brief doch an Rosi weiter - oder einen Teil davon - oder erzähl ihr wenigstens ein wenig. Ich komme nämlich nur relativ  selten zum ausführlichen schreiben, und so weiss ich nicht, wann ich ihr schreiben werde. Tun will ich es jedenfalls, aber eben: wann?

Dir wünsche ich zum Schluss noch einmal alles alles Gute! Gesundheit und einen Sechser im Lotto und liebe Menschen -, auch einen tollen Freund, wenn es Dich danach gelüstet! - schönes Wetter und leere Strassen, wenn Du irgendwo hin musst und nette Verkäuferinnen, wenn Du wiedermal wo was suchst und was der schönen Dinge mehr sind! Aber natürlich: Was nützen all die Herrlichkeiten, wenn wir so verliebt in unsere Sorgen sind, dass wir sie keine Minute allein lassen wollen oder wenn wir eine solche Angst um ihr weiteres Dasein haben, dass wir nie ohne sie irgendwohin können ... In diesem Sinn wünsche ich Dir vor allem ein frohes frohes Herz! - Jetzt ist Benedict gekommen, um mich zum Abendessen abzuholen. Darum, liebe Marthe! Goodbye und a bientôt! Ganz viele liebe Grüsse, dein Martin