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An Martin T., im September 1991

Lieber Martin! Am Horizonte meines Geistes (falls man bei dieser Graumasse überhaupt von "Geist" sprechen darf) - am Horizonte dieses Innern etwas jedenfalls sitzt Du schon seit längerem und baumelst mit den Beinen - Deinen, nicht meinen, klar! Heut endlich raff ich meine Entschlüsse zusammen und schreibe Dir!

Und? What's going on in your life? - Wie war Dein Sommer? Deine Floss- und andern Kurse? -Was treibst Du zur Zeit oder was treibt Dich? Was und wohin? Ja -, wie geht's Dir auch sonst, innerlich? -, Äusserlich? ... Ich glaube, ich habe seit März, seit den letzten Tagen von Goldern, keine Nachrichten mehr erhalten über Dein Ergehen.

Ich war seither wohl nur ein oder zweimal in der Ecole - einmal für ca. 5 Tage, einmal nur einen kurzen Tag. Ich werde wohl vor Weihnachten noch einmal für 4 oder 5 Tage hochfahren, insgesamt aber scheint nach wie vor Ab- und Loslösung angesagt. Nach zwei vergeblichen Anläufen Ende Dezember 90 und Ende April 91 habe ich allerdings seit ein paar Wochen endlich die Verbindung zur alten Ecole, zu Paulus' Elternhaus und dem kleinen Städtchen aufnehmen können, in dem er geboren wurde. Vielleicht führt mich der Weg über die Historie und das Innere des Herrn P.G. ja irgendeinmal wieder zur heutigen Ecole hin, wer weiss! Vorläufig ist die Historie eher mein Rückzugsgebiet, mein kleines Idyll, in das ich mich innerlich zurückziehe, wenn ich etwas Ruhe haben will vor dem, was mich sonst treibt.

Das, was mich sonst treibt, ist vor allem die Zeitung "Endlich", von deren Geburt ich Dir vermutlich schon vor einem halben Jahr in der Ecole erzählt habe. Inzwischen ist bereits die Nummer 3 von "Endlich" draussen und die Nummer 4 ist in Vorbereitung. Wir leiden an allem: an Mangel an MitarbeiterInnen, an steigenden AbonnentInnenzahlen, an Mangel an Geld, an Enthusiasmus (auch daran kann man leiden) ... Die Sache ist (meistens) sehr spannend: nicht nur mit inhaltlichen Fragen, mit Recherchier- und Schreibarbeit bin ich konfrontiert, sondern in hohem Mass auch mit Fragen des Marketing, der internen Organisation etc. Ich werde mir bewusst und fühle es in meinem Blut, dass unter meinen Vorfahren nicht nur Lehrer und Psychologen, sondern auch Kaufmänner und -frauen waren.

Was mich persönlich angeht, so bin ich seit ein paar Monaten glücklich und neu verliebt oder: neu verliebt und glücklich. Ich steuere - das hat mit der Liebe nichts zu tun, ist aber dennoch wahr - mehr oder weniger frohen Mutes auf meinen finanziellen Ruin zu, da ich für all die Arbeit, mit der ich mich seit Anfang dieses Jahres herumschlage - Geheeb, Zeitung, diverse Vereine, Organisation von irgendwelchen Veranstaltungen etc. - keinen Lohn kriege. Ich wollte es so -, wollte einmal nicht an irgendeinen Geldverdienjob gebunden sein. Nun; inzwischen halte ich also wieder Ausschau nach einem solchen, um nicht frühzeitig zum Strandgut der Geschichte zu werden. Meist bin ich diesbezüglich ziemlich unbekümmert, doch hin und wieder empfinde ich die Situation doch als bedrückend, nicht nur die Unsicherheit der Zukunft, auch der Mangel an offiziell anerkannter Struktur, an Lob "von oben", an Bestätigung durch rechte "Profis" -, ein Mangel der unvermeidlich zu meinem jetzigen, ziemlich freien Leben gehört, mit dem ich eigentlich leben muss und meist auch gut leben kann. ... Und Du?

Im Sommer war ich zwei Wochen unterwegs durch das neue alte Deutschland, habe in der Rhön (unweit von Fulda) ein paar Tage Urlaub gemacht, bin dann via Eisenach, Gotha, Erfurt nach Weimar gereist, wo wir bei Bekannten meiner Eltern wohnten und viel über die Wende und die Zeit davor diskutiert, die Goethestadt und die Umgebung, Jena und Rudolstadt bekuckt haben etc.. Danach waren wir noch zwei eher strapaziöse, sehr heisse Tage in Dresden und 5 Tage auf Rügen. Dort wollten wir ausruhen, uns erholen, schwimmen und wandern. Unerwarteter Tourismus und schlechter werdendes Wetter haben sich feindselig eingemischt, sodass wir einigermassen k.o. und unausgeruht aus den Ferien zurückkamen, froh, uns hier endlich erholen zu können ... Und Du?

Wenn ich nicht unruhig zwischen fünf Bedürfnissen sitzen würde -vom Klo  gerufen und von der bald schliessenden Post, von ein paar noch zu erledigenden Telefonaten gezwickt und vom Bedürfnis mich wieder einem Aufsatz über "Freiheit statt Reformen" zuzuwenden -, wenn nicht ... dann würde ich noch friedlich weiterschreiben, so aber nimmt die Hektik das Steuer nun in ihre alten Hände und macht diesem Brief ein Ende!

Lieber Martin. Lass mal von Dir hören, flüchtig oder gründlich, mehr denkerisch oder fühlerisch -, nur wenn's irgend geht in klarer Schrift, auf dass meine VorleserInnen und ich nicht verzweifeln müssen ob der Unlesbarkeit Deiner Hand! Ich wünsche Dir viel viel Gutes und freue mich von Dir zu hören!