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An Suse M., im Mai 1991

Liebe liebe Suse - was raschelt im Stroh ... Hallo Du uns abhanden gekommene - dort im schwarzen Walde verschollene liebe liebe Suse!

Ich liege ermattet auf meinem Bett und blättere mein Adressbuch durch, da bleibt mein irrender Finger an Deinem Namen hängen und auf steigt eine kleine Freudensonne in mir: "ja die Suse!", denk ich und "wie schön wär's doch, von ihr wiedermal was zu hören oder sie gar - darf man hoffen? - irgendwo leibhaftig zu treffen!" - Meine protestantisch-eiserne Ethik sagt natürlich, dass es nicht angeht, an einem gewöhnlichen Mittwochvormittag lange (persönliche!) Briefe zu schreiben, aber mein Fleisch ist schwach und gibt ach so leicht allen Verlockungen nach, die es dauernd vom rechten Weg abbringen! "Hab ich ihr eigentlich oder wollt ich nur schreiben", das fragt sich auch mein alter Kopf, der Phantasie und Wirklichkeit nicht immer so getrennt hält, wie's in den Lehrbüchern empfohlen wird: "Hab ich ihr für Ihren tollen Brief gedankt, den sie mir schrieb, als sie bei ihrer kranken Mutter war? Den Brief, in dem die Rede von der Art und Weise war, wie in Tibet bestimmte Stände erzogen würden: lernen als ein sich erinnern - wie's ja schon der alte Plato nannte -, erinnern an früher gelebtes, gelerntes, nicht als ein alternative oder traditionell, ganzheitlich oder fragmentiert sich annähern irgendwelchem Stoff. Hab ich daraufhin schon oder wollt ich nur schreiben?" ...

Suse, liebe Suse. Wir wohnen doch nicht so erbärmlich weit voneinander, dass man sich nie treffen könnte, oder. Meine paar Telefonanrufe im Laufe der letzten Monate waren leider nie von Erfolg gekrönt (was ne unpassende Redewendung in diesem Zusammenhang), mein Brief irgendwann im Herbst war es merhin, und auch meine Sendung vom März mit der neuen Zeitung scheint bei dir angekommen, jedenfalls hab ich mit Freude gehört, dass du zu unsern Abonnenten zählst, trotz (mir übrigens nicht fremden) Skepsis dem alternativen Jubel und Rummel gegenüber. ...

Ja Suse, wie geht's Dir denn so. Du wohnst noch immer c/o Knorr oder hat der Strom des Lebens dich wieder ergriffen und eine Strecke weiter gespült? Und was tust Du an Deinen Vor- und Nachmittagen, an den Abenden und in den Nächten. Gibt's irgend eine Arbeit in Deinem Leben, gibt's (innere oder äussere) Erkundungen, Lektüre, gibt's Übungen? Meditation? Töpfern? - Klingt ja friedlich, wie ich das schreibe. Vielleicht gibt's auch vor allem Stress, verschwitztes Leibgefühl, Sorgen um die nächsten 50 oder 150 Mark, besorgtes kucken nach irgendwelchen andern Jobs, Reibereien c/o Knorr und Fremdsein sonst ... Träume, die nicht auf die Erde, nicht zu Dir kommen und was werden wollen, allmählich verfaulende Hoffnungen, abnehmender Glaube an dich, an Dein Inneres, Dein Leben, Deinen Lebensweg. Müdigkeit, wo manchmal - früher -so viel Wachheit war und Freude!? - Suse, liebe Suse (nicht nur so hingeschrieben, dieses "liebe Suse", auch so gemeint!!!) - Wie geht's denn bei Dir?

Hier bei mir: üppig. Meist interessant. Ich freue mich meines Lebens, wenn ich auch immer wiedermal das starke Gefühl habe, weg zu wollen, weg von allem, was mich jetzt jeden Tag beschäftigt und was doch immer einen Beigeschmack von Rutine hat ode diesen schnell annimmt, wenn ich nicht immer wieder dran rüttle und schüttle. Diese Impulse kommen und einmal (in einem - zwei Jahren ...?) werde ich wohl wirklich mal den Laden hier Zumachen und gehen, hinaus in die Welt, ins Ungewisse, auf dass das Leben sich neu ordnen und in gestalten möge. Was Arbeit angeht, so ist das Geheeb-Buch noch immer aktuell: ich habe noch so gut wie nichts daran geschrieben, kämpfe gegen Lustlosigkeit in der Sache und wenn kleine Ansätze von Lust spürbar sind (sie sind es eigentlich immer wieder), so werden sie verdrängt durch viele andere, "aktuellere" Dinge. In den letzten Monaten natürlich vor allem die "Zeitung für ein freies Bildungswesen", dann aber auch sehr viel Menschen, Gespräche, Begegnungen. Auf meinem Schreibtisch liegen Zettel mit Hinweisen auf Dinge, die ich noch tun müsste: Ueli Seiler im Schlössli fragen, ob es dieses Jahr eine Sommertagung gibt - ob wir in "Endlich" ein Stelleninserat des Schlössli veröffentlichen sollen - ob wir eine kurze Notiz über die jetzige Situation im Schlössli bringen können? - Maria anrufen und fragen, wo das Protokoll der letzten Vorstandsitzung der Vereinigung der freien Schule geblieben ist und ob sie nicht eine kleine Rezension des "Dossier" schreiben will (für "Endlich"). Ruth und Franco anrufen und sagen, dass wir am nächsten Mittwoch wirklich kommen und die Redaktionssitzung gerne in ihrer Wohnung abhalten würden. Dem CBF anrufen und fragen, ob ich am kommenden Donnerstag tatsächlich an die Sitzung kommen muss (sie wurde extra meinetwegen auf diesen Tag gelegt), da ich eigentlich schon am Mittwoch Nacht nach Graz fahren wollte, um bei Pina zu sein, die sich dort ihr zweites Auge herausoperieren lassen muss. Klaus in Graz anrufen ob er ... Die Korrespondenz von Frau M. mit den Behörden, die ihr nicht erlauben wollten, ihren Sohn für einige Monate zuhause zu unterrichten, und ihren Bericht über diese Zeit zu einem Artikel zusammenfassen bzw. überlegen, ob ihr Bericht einfach so in die Juni-Nummer von "Endlich" soll ... Pina anrufen, ihr die Telefonnummer von ... geben und kucken wie's ihr geht. Überlegen ob ich Lukas Heute Abend sehen will ...

O Suse! Die Liebe ist überraschend nach ziemlich langen Jahren auch wiedermal bei mir vorbeigeflogen und hat mir ein Geschenk gebracht: Renzo heisst der liebe Mensch! Wir balancieren schon seit einigen Monaten mit ziemlich Erfolg und mit Grazie zwischen Seeligkeit und Absturz - immer so knapp am Rand des Glücks, aber doch immer drin. O. Sehr schön! Für mich sehr schön!

Ja jetzedle! Ich wollte Dich auch mal fragen, ob Du nicht Lust hättest, das was Du mir vor 6 oder 7 Monaten in jenem Brief geschrieben hast (Lernen als sich Erinnern an frühere Leben) als Thema in unsere Zeitung zu bringen - vielleicht in Form eines Aufsatzes, vielleicht in Form einer Buchbesprechung - vielleicht in Form eines Leserbriefes - vielleicht in Form eines Essays (freier, eher assotiativ) ... Lass den Gedanken mit Dir spielen und wenn er auf's Papier (oder ins Tonband) will, so hindere ihn nicht! Es ist eine mir selber ungewohnte Denkrichtung, gelesen habe ich darüber noch so gut wie nichts, auch treffe ich nur sehr wenige Menschen, die von so etwas überhaupt sprechen. Doch fremd ist mir das, was du in deinem Brief geschrieben hast, eigentlich doch nicht. Innerlich nicht fremd. Klingt stimmig, aber dann doch irgendwie ungewohnt, skuril.

O Suse. Eine alte Telefonrechnung habe ich noch immer in meinem Schreibtisch liegen: deine letzte aus Goldern, die ich damals für dich bezahlt habe. Werden wir uns in Basel mal sehen und dann auch dieses Geschäft abwickeln? - Allerdings. Ich drifte erst auf Contostand 0 zu, wenn Du zur Zeit in diesem Zustand lebst, dann lass uns mit der Rechnung noch warten. Sie lag bis jetzt ja gut in meinem Schreibtisch.

Sooo! Jetzt werde ich's nochmals mit den Telefonaten versuchen, hoffend, dass dem Tag allmählich Flügel wachsen, und er zu einem jener Tage wird, die ich dann "Leben" nenne!

Suse, du, ich hoffe, es gehe Dir gut - hoffe und wünsche es! Ich würde mich sehr freuen, Dich wiedermal zu sehen. Ich denke, es lohnt sich, wenn wir mit unsern jeweiligen Alltagen mal ein wenig verhandeln, um zu sehen, ob das wirklich nicht zu machen sei! (bei mir heisst immer gleich: keine Zeit ... keine Zeit ... - elendes Hühnergegacker im Land der Prezisionsuhren).

Leb wohl und lass mal (per Draht oder Papier oder Kassette oder ...) von Dir hören oder klingle hier bei uns - noch immer (wie lange noch, o schwankes Leben) - an der Landskronstrasse!

Viele viele herzliche Grüsse