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An Thomas-Maria R., 9. September 2004, Buenos Aires

Thomaso - Amigo! Du bist weit fort und doch bis du hier wie immer, bist in mir und in meinem Zimmer. Hat sich voll gereimt und ist erst noch ein wenig wahr! Noch zwei drei solche Verse und ich bin ein gemachter Mann!

Anfangen. Ja ... wie und wo soll ich anfangen? Ich hab schon zwei oder drei Anläufe genommen, dir zu schreiben, denn es schien mir nicht recht, dich da drüben so ganz ohne trostreiche Worte und väterlichen Ratsamen zu lassen. Doch ach, trocken war, was meinen Fingern entspross und langweilig, zu wenig für einen dichter wie dich! Und zu wenig auch für einen Schreiber wie mich. Und heute? Wird mich die Muse dieses Mal küssen oder werd ich auch dieses mail kübeln müssen? Wie und wo soll ich anfangen? Es gibt ja eigentlich nichts zu berichten und zugleich gibt es so viel, was ich erzählen möchte ...

Ich reise also wirklich. Der Entschluss steht da als ob es ihm ernst wäre. Entscheidungen fallen. Der neue Pass liegt bereit, keine US-Einreisestempel, welche die Iraniker ärgern könnten! Die Passfotos für die diversen Visumsanträge sind gemacht, die einschlägigen Formulare bestellt, die Kreditkarte erneuert, ein Untermieter für meine Gemächer gefunden und der Gang zur Impfberatung ins Auge gefasst. Hanna hat sich bereit erklärt, sich während meiner Abwesenheit um meine Angelegenheiten zu kümmern und als Schaltstelle zu fungieren. Wenn du kommst werde ich gehen ... Zunächst per Schiff von Venedig oder Ancona nach Griechenland und weiter in die Türkei. Dann mit Bus und Bahn, mit Taxis und Eseln  und was das lokale hin und her sonst noch so bietet in Richtung Iran und weiter nach Pakistan und Indien. Die ersten drei bis vier Wochen wird Wolfgang mitkommen - nein nein, kein neuer Lover, kein Träumekündster und Schmeichelhänfling, kein Schmusemann, kein Lustbeflügler, kein wilder Mannbespringer, kein süsser Ohrenflüst'rer und Umarmer, nur ein Mensch, den ich so kenne. Danach, ab ca. Mitte November, bin ich für vier oder fünf Wochen mir selber überlassen, bevor ich im Dezember meine Freundin Amie mit Tochter und Tochterfreundin aus den USA treffe. Dies alles ist also so gut wie beschlossen. Die Abnabelung von geheeb damit noch einmal ein Stück voran gebracht, auch die Abnabelung von dem Wahn der universitären Lehrbestuhlung  und Hörbesaalung. Das buch wird kommen - irgendwann einmal, vermutlich erst nach meiner eigenen Rückkehr im kommenden Frühling. Ich will fünf bis maximal sieben Monate unterwegs sein. Nach Indien geht die Welt ja noch weiter ... Thailand, Malaysia, Angkor Wat , die alte Tempelstadt und schliesslich als Nachspeise und Abrundung sozusagen der Pazifik und die USA, die Fortsetzung der Reise in östlicher Richtung, die Umrundung der Erde ... Vielleicht auch nicht. Ich bin am zusammensuchen der Puzzelteile, bin am Entscheiden, was in den Rucksack soll und was hier bleiben muss. Die Gefühle von Angst und nicht wollen, die mich vor ein paar Monaten vor allem bedrängten, wenn ich an meine Reisepläne dachte, sind weniger geworden. Freude und Reiselust nehmen zu und lachen mich an. Ich hoffe im Augenblick sehr, dass es mir gelingt, für  die Zeit von Mitte November bis Mitte Dezember einen privaten Reiseführer und Begleiter durch Pakistan zu finden, denn Pakistan ist nicht ohne (einige gefährliche Gegenden und politisch eher unruhig) und mit einem solchen Companion wäre ich doch einiges freier in meinem Tun und Lassen und könnte mehr von dem Land sehen, als wenn ich es ganz allein versuche.

Das ist also die Reise, die ihr licht und ihre Schatten voraus wirft. Daneben gibt's natürlich noch anderes ... grosse stille Gedanken an die "Zukunft", an das wozu und wohin meines Lebens, musikalische Freuden und Entdeckungen, sexuelle Experimente und seriöse Aktivitäten aller art. Unterhaltsam das meiste, manches sehr schön, manches eher langweilig. Wie's halt so geht.

Jetzt mach ich Schluss, damit ich bis zum Abend noch einiges andere schaffe. Ich weiss ja auch gar nicht, ob du emailmässig überhaupt erreichbar bist. Aber einen versuch - klein und unwürdig im Vergleich zu deinem grossen Brief - wollte ich doch einmal unternehmen, damit du es schwarz auf weiss oder schwarz auf grau oder blau oder wie auch immer vor dir hast: I'm here baby! Ich bin an deiner Seite - am Strand, zwischen den Hütten der Favelas und in deiner Kammer! Ich hoffe es gehe dir gut, und ich freue mich, dich bald wieder kräftig drücken zu können. Ich reise vermutlich am 10. Oktober, oder zwei, drei Tage später. Somit sehen wir uns noch! - Take care und geniesse die letzten Wochen!!! Bald ist der Traum vorbei! - Martin