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Der heimliche Lehrplan

Wir mögen in der Schule ein wenig Französisch und Chemie, auch ein wenig Mathe oder Gesellschaftskunde lernen. Einige dieser Wissensbrocken haben uns vielleicht sogar tatsächlich interessiert und zu eigenem Nachdenken angeregt ... Was wir in der Schule jedoch vor allem und am gründlichsten gelernt haben sind die in ihrer Struktur enthaltenen Botschaften. Diese  Botschaften bilden das, was SchulkritikerInnen seit Mitte der 1960er Jahre als den „heimlichen Lehrplan" der Schule bezeichnen.

Wir lernen daran zu glauben, dass in der Schule wichtiges Lernen stattfindet.

Wir lernen, an den allein seelig machenden Wert dieses Lernens zu glauben.

Wir lernen, Lernerfahrungen ausserhalb der Schule als irrelevant zu betrachten.

Wir lernen, dass in der Schule alle zu einer umfassenden Bildung gehörenden Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden.

Wir lernen, dass Dinge, die in der Schule nicht behandelt oder gelehrt werden, irrelevant sind.

Wir lernen, den Lehrer / die Lehrerin als Vertreterin der Autorität zu fürchten und seinen / ihren Befehlen jederzeit Folge zu leisten.

Wir lernen, uns den Anordnungen der Schule bzw. der Lehrkräfte auch dann zu fügen, wenn uns eine Massnahme ungerecht oder sinnlos scheint.

Wir lernen, uns täglich bis zu 16 Stunden mit den Dingen zu beschäftigen, die von der Schule oder einem anderen „System" vorgegeben werden, gleichgültig ob wir diese Dinge nützlich, unterhaltsam oder sinnvoll finden.

Wir lernen, unsere eigenen Gefühle und Gedanken sowie andere Impulse und spontane Reaktionen jeweils vorab zu prüfen und sie inhaltlich und in der Intensität dem in der Schule erlaubten anzupassen.

Die Ergebnisse dieses Lernens schlagen sich nicht nur als eine Art unbewusster Leitsätze oder Dogmen in unseren Köpfen nieder. Das Lernen geht tiefer, und es scheint deshalb richtig, an der Stelle vom heimlichen Lehrplan und der nicht deklarierten Tiefenwirkung der Schule zu sprechen. Die Schule prägt nicht nur unser Denken, sie beeinflusst auch unsere gefühlsmässigen Reaktionen und unsere menschliche Haltung, wobei „Haltung" sowohl als Sammlung von Einstellungen als auch als körperliche Haltung zu verstehen ist. Das exzessive Sitzen und Reden, die Tendenz zur Reduktion der Wirklichkeit auf kognitive Prozesse und auf Lese- und Schreibaktivitäten etc. wirken sich auf den gesamten Menschen aus. Allfällige Schäden und Einseitigkeiten sind deshalb auch nicht so leicht wegzutherapieren. „Unlearning" ist ein harter und langwieriger Prozess, und gewisse schulbedingte Entwicklungsdefizite lassen sich später nicht mehr aufholen.