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Erwachsen zu werden ...

Wieso kam ich nicht mit 12 13 Jahren in die Ecole oder eine ähnlich progressive Schule? Es hätte mir einiges erleichtert, natürlich auch das Spiel um die Sexualität. Zwar sprachen wir mit Freunden ansatzweise über Sex und die eigenen wirren Gefühle in dieser Sache, machten die Hose auf, fassten andern an den Schwanz ... aber den Eltern und eigentlich allen Erwachsenen gegenüber gab es da nur Funkstille. Gespräche mit Christoph, Jürg und anderen, bei denen es mehr oder weniger explizit um Sexualität und um die eigenen wirren Gefühle in dieser Sache ging, gab es. Ein Telefongespräch, in dem Philipp mir über einen Skipper berichtete, der ihn auf sein Boot auf dem Bodensee eingeladen habe, wobei der Mann vermutlich Absichten hatte. Damals war ich 13, 14 Jahre alt.

 

Ich war 14 oder 15 als  mich zum ersten Mal Ein  Erwachsener im vollen Tram an den Schwanz fasste und ihn rieb. Der Mann stieg an der nächsten Haltestelle aus und lies mich stehen. Mir blieb die Erinnerung und eine erstmals ganz erwachte Lust auf Sex und gleichzeitig eine grosse Angst vor dem entdeckt werden. Merkwürdig, dass ich mich fünfzig  Jahre später noch an diese Geschichte erinnere!

Ungefähr zwei Jahre später – ich war 16 oder 17– half mir jemand von der Tramhaltestelle zu Herrn Artur. Auf dem kurzen Weg hielt und drückte er meinen Arm immer auffälliger, und als wir vor dem Tor angekommen waren – rein in den Garten und ein paar Steinstufen hoch zur Haustür -, da war seine Hand ebenfalls an meinem Schwanz, und er drückte mich fest an sich. Er sei vom Ballett, sagte er, bevor ich in die Klavierstunde ging. Ein anderer hätte die Klavierstunde vergessen, denn – das merkte ich auch: es gab noch aufregenderes als eine mehr oder weniger Langweilige Klavierstunde.

Ich denke an Professor Robert in Eugene, der uns im Sommer 1973 in Basel besucht und mir bei der Gelegenheit eine Klavierstunde gegeben hat. Er demonstrierte mir die Wirkung der Dominante ... ein heisses Thema, gut demonstriert! Als ich im folgenden Jahr in Eugene an der Uni war, nahm er sich meiner ebenfalls an, vermittelte mir einen seiner besten Studenten als Klarinettenlehrer und gab mir selber ein paar Klavierstunden. Ein oder zweimal war ich auch an einer Party bei ihm zu hause. Ich begriff erst später, dass er offenbar auf Männer oder Buben stand, und dass ich für ihn wohl nicht so sehr wegen meiner genialen musikalischen Begabung, sondern eher wegen meines reizvollen Körpers interessant war. Hätte er mich doch verführt – verführt und aufgeklärt, aus meiner Isolation befreit und ermutigt! Vielleicht wollte er es und traute sich nicht. Vielleicht wollte auch Dale oder wie der ältere Student hiess, den ich durch Professor Robert kennenlernte und der mich einmal zu sich einlud. Damals begriff ich nicht, doch ich denke, dass auch er schwul war und mich attraktiv fand, mit meiner Sprödigkeit jedoch nicht zu Recht kam.

Ich hatte in den 1970er Jahren auch andere  one   stand Nights  mit Männern, aber ich habe sie Immer wieder verdrängt. Gefühle zu haben, Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe ... ich hatte zu gut gelernt, so zu tun als ob es dies bei mir nicht gäbe. Alle Beziehungen wurden prinzipiell nur über Worte, spottende, zynische Bemerkungen und coole Phrasen abgehandelt. Mädchen gab es im Humanistischen Gymnasium damals noch nicht, zwei oder drei Jahre später wurde die letzte Bastion geräumt. Vielleicht wäre meine Entwicklung anders verlaufen, wenn wir im Gimmi nicht nur Buben gewesen wären.

Von 1975 bis ungefähr 1990 habe ich auch einige Frauenbeziehungen gehabt, weil ich noch immer hoffte, ich wäre gar nicht schwul. Erst Anfang der 90er Jahre hatte ich das letzte Mal mit einer Frau, Angelika, Sex. Ich warnte Angelika vor einer Enttäuschung, aber sie bestand darauf es noch einmal zu  versuchen. Nachher schrieb ich ihr zum Jux  ein poetisches Gedicht: Wie herrlich war's doch auf der Petersinsel, wie frühlingshaft und warm, und wie romantisch doch die Pferde grasten vor unsres Zimmers weiten Fenstern! Dir war zwar, was im Bett geschah - so schien es jedenfalls - recht fade, doch war es immerhin! – So ging mein heterosexuelles Leben zu Ende!

Von Juli bis September 1980 war ich im Langzeitprogramm in ZIST, ein umgebauter Bauernhof,   in der Nähe von München, wo ich bereits 1978 an einem vierwöchigen Selbsterfahrungskurs teilgenommen hatte. Weil das ZIST-Programm nicht billig war, arbeiteten wir nebenbei fünft sechs Stunden am Tag in der Küche, im Haus oder dem Garten, um das Programm mitmachen zu können. Dort beschloss ich, den WG-Menschen in Riehen endlich zu gestehen, dass ich -, dass ich Schwul sei. Ich wollte das Doppelleben, das ich mehr und mehr führte,  nicht mehr weiter führen!

Ich weiss nicht, ob wir erst nach meinem Geständnis in den zweiten Stock hoch gingen, oder ob wir sozusagen als Vorbereitung die Küche verliessen, und uns im kleinsten Zimmer des Hauses zusammendrängten. Ich weiss nur noch, wie erleichtert und stolz ich nach meinem Geständnis war. Ich hatte ihnen zum ersten Mal von  all   der Scham und Angst in mir erzählt, und sie sassen da, hörten zu, erzählten von sich, ermutigten mich, umarmten mich ... Es dauerte noch Jahre, aber irgendwie hatte ich es geschafft, zum ersten Mal öffentlich zu sagen, ich bin schwul.

Ich VERSUCHTE zuerst ein ganz normaler Schwuler Mann zu sein, treu auch in sexueller Hinsicht. Ich war damals mit Renzo zusammen. Aber ab ungefähr 1995 war ich, wenn ich Sex haben wollte, immer mehr in einem dunklen Park oder bei mir oder bei anderen daheim. Es faszinierten mich mehr und mehr auch sadistische und masochistische Fantasien, in denen ich zum Dienen gezwungen werde, in denen ich missbraucht und vergewaltigt, erniedrigt, angepisst, gefesselt und  geschlagen werde. Fantasien, in denen ich in engen Lederklamotten stecke und vor meinem Meister Knie und seinen Schwanz oder seine Stiefel lecke. Ich bin noch immer angetörnt von dieser Art des Meister- - und Sklavenspiels, wobei ich nicht mehr der Jüngling bin der ich einst war! Ich bin jetzt im Rollstuhl und Blind, darum ist die Chance gegen Null, dass mich noch einer attraktiv findet. Aber die Sehnsucht bleib.

Vom Standpunkt bürgerlicher Normalität und Wohlanständigkeit aus betrachtet wirken diese Fantasien vielleicht befremdlich und abstossend. So viel Schmutz und Kaputtheit, so wenig wirkliche Liebe, so wenig Gespräch und Zuneigung. Und doch. Ein tiefes Gefühl in mir will nur das! SM als ungewöhnliche Variante eines Liebesliedes, als Ausdruck der Sehnsucht nach dem grossen Glück oder als religiöser Weg der Läuterung? Überwindung und Auslöschen des hochmütigen Ego mit seinen engen Grenzen und Meinungen  ... Die Unterwerfung unter die Autorität des Meisters und das Leiden in den von ihm vorgegebenen Strukturen wären dann auch meine „Flucht vor der Freiheit", mein Weg zurück in die als Paradies empfundene Zeit der Kindheit, in der ich – der Autorität der erwachsenen Umgebung ausgeliefert und anvertraut - nichts entscheiden musste - auch nichts entscheiden durfte! -, eine Zeit, in der alle Verantwortung ausserhalb  meines Einflussbereichs lag.

Ich vermute, dass vor allem viele Männer im  Innern auch solche Gäste beherbergen, und dass diese manchmal einen solchen Tumult veranstalten, dass wir kaum noch klar denken können. Dabei sagen sie uns alle etwas über die persönlichen und gesellschaftlichen Strukturen, die unser Dasein bestimmen, die uns Form und Halt geben, aber zugleich auch verkrüppeln und einengen. Das ist im Alter immer noch so, auch wenn die Sexualität sich langsam verabschiedet. Was wir da zuschütten ist letztlich unsere Menschlichkeit! Wir versklaven uns selbst, weil wir nicht mehr spüren, was wir sind. Da schliesst sich der Kreis: Freie Sexualität, freiwillige Schule und eine Arbeit, die wirklich sinnvoll ist, das ist Leben.

Copy 2022 Martin Näf