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Spaziergang durch den Suk von Marrakech

"(...) Heute bin ich für zwei Stunden raus aus meinem Hotel. Ich hab mich zu ein paar "ruhigen Strassen" durchgefragt, wo's keinen Verkehr, sondern nur Menschen gibt. "O, Sie wollen einen Teppich kaufen?", "Nein, nein, ich möchte nur ein paar Strassen finden, in denen ich ein wenig herumspazieren kann - so - easy, vous saivez: gemütlich". "Aber was möchten Sie denn kaufen". "O ja, kaufen, sehr gut. Auf wiedersehen." ... Tap tap tap. Jemand zieht mich nach links, jemand nach rechts: "Pardon, je cherche ...". Jemand dreht mich um: "Tout droit" (= immer geradeaus). "Thank you, äh, I mean danke ...". Ich bin schon ganz durcheinander mit den Sprachen ... Aber nach zehn Minuten Karussell und Chaos wird's tatsächlichh fussgängerischer. Man braucht nur Geduld, dann geht fast Alles.

Um Mich sind viele menschen und hie und da ein Motorrad. ich gehe vorsichtig vorsichtig weiter, um ja keine teure chinesische Vase von einem der Verkaufsstände zu stossen, die hier links und rechts aufgebaut sind ... Doucement, doucement. Da ein Klingkling. O, mein Stock! Was er wohl berührt hat? Sachte such ich mit meiner Hand! Ich komme mir vor wie Kolumbus vor 500 Jahren! Da! Etwas viereckiges, leicht staubig ... etwas ungewöhnliches, geheimnisvolles! Ich wage mich noch etwas mehr vor, da kommt die Ernüchterung: Keine marokkanische Teekanne und kein handgeschnitztes Schachspiel, sondern bloss das Rücklicht eines parkierten Motorrads! Tja, diese Suks und ihr Charmes! Immerhin, die Händler sind auf ihrem Posten: "Kann ich Ihnen helfen, mein Herr? Was suchen Sie? Wollen Sie einen Teppich kaufen ...?" So geht's eine Stunde
ichh treibe wie ein kleines halb verschüchtertes, halb neugieriges Kind durchs Gedränge. zwischendurch bleib ich stehen. Ein Verkäufer zeigt mir eine moderne Mischung von Jojo und Kreisel, ein anderer führt mir seine "magic boxes" vor. Handgemacht, garantiert! - Natürlich, handgemacht wie die tausend ganz gleichen Boxen in den hundert anderen Souvenierläden. - Man kann hier wirklich viel finden, und ganz sicher auch viele sehr schöne Dinge, aber ich will ja eigentlich nicht schoppen. Also sachte sachte weiter gependelt in Richtung "tout droit" und dann - so nach Gefühl - rechts abgebogen ... Der Jojomann hat gesagt, dass es um diese Ecke ein Kaffee gibt, und tatsächlich: "Ja, ja, Sie sind angekommen". Der Kaffee ist sehr sehr gut! Noch zwei Worte mit dem Kellner getauscht und dann wieder hinein in den Strom der menschen. Einheimische und Touristen. Die Stimmung ein wenig wie in der freien Strasse in Basel an einem schönen Samstag Nachmittag. Und ja. Samstag Nachmittag ist's ja tatsächlich.
Ich gehe vorsichtig. Durchatmen! O, tatsächlich, das atmen lohnt sich, denn plötzlich riecht's nach Gewürzen und ein paar Meter weiter nach Leder und wieder ein paar meter weiter nach ... naja, die Tiere lassen es halt fallen, wo es fallen will, und Tiere gibt's auch hier in Marrakech. ZB Pferde, die mit einem Wagen voll Touristen oder anderer Güter durch die Strassen der Stadt zuckeln. Die armen Viecher. Allerdings immer noch besser als die Cobras und die Affen, die auf "dem Platz" ausgestellt sind um sie zu begaffen! ... Eigentlich macht's mir ja keinen Spass als blinder Tourist durch diese Wunderwelten zu spazieren, denn ich hab immer das Gefühl, tausend Dinge zu verpassen, aber heute bin ich gut drauf und meine Hilflosigkeit amüsiert mich eher als sie mich ärgert.
Manchmal stehe ich einfach da und lache, weil mir die ganze Situation so absurd vorkommt. Dann versuch ich wieder einem menschen, der mich in die Mitte des Weges manöveriert, damit nichts passiert, zu erklären, dass ich absichtlich ein wenig am Rande gehe, weil ich nur dann hie und da auf irgend etwas stosse. "Verstehen Sie, ich sehe mir Marrakech mit meinen Händen an und mit der Nase, nicht mit den Augen." "O, o, natürlich. Vielleicht wollen Sie auch einen Teppich kaufen oder vielleicht ...". "Nein nein, heute nicht, aber morgen, in sha'Allah. Morgen komm ich wieder."
Ich frage ein paar mal, ob ich immer noch auf dem Weg zum "Platz" bin. "Oui, Monsieur. tous drois". Plötzlich drückt mir jemand einen Gürtel in die Hand, dann zwei, dann drei: "Echtes Kamel ... Rot und braun und dieser hier Schwarz. Für dich mein Freund. Nur 30 euro. Zwei für drei oder eins für dich. O ja. Für dich, weil du nicht sehen kannst, wie meine Schwester im Spital in Casa Blanca. Für dich. Zwei für drei. Spezialprreis. 15 euro. 20 euro. 15 euro. Warum nicht. willst du nicht geben. Auch nicht für meine Schwester. ich muss doch essen. 15 euro. All die Arbeit und meine Schwester. Gib ein wenig, nur ein wenig ...". Es dauert. Die Gürtel fühlen sich angenehm an, aber ich will ja nichts kaufen, höchstens ein Geschenk für Nico, eine magische Boxe, garantiert handgemacht ... nur 150 Dirham, aber für dich gebe ich sie für hundert, weil du mein Freund bist ... "Mein Herr, Sie verschwenden Ihre Zeit, ich will keine Gürtel kaufen, wirklich nicht, es tut mir leid." "Wirklich nicht, und Sie wollen auch nichts geben? Zwei für drei, hier, alles selber gemacht, von Hand. Sie wollen meiner Schwester nicht helfen? Okay - byebye!" ... Und weiter geht es tack tack tack in Richtung "Platz".
"Chacha pröprö tüjakthal perr". ich verstehe nicht, was die Frau neben mir will, aber sie weiss was sie will und nimmt meinen Stock. Hopp: In doppeltem Tempo geht's voran. Es ist nicht genau die Führtechnik die vom schweizerischen Blindenverband propagiert wird. Im Gegenteil. Sie raten sogar davon ab, Blinde an ihrem Stock hinter sich herzuziehen, aber hier, in der Medina von Marrakech ... Es heisst ja, andere Länder, andere Sitten. Und es heisst auch: Go with the flow ... Es ist wirklich wie ein Stück surreales Theater. Ich versuche Schritt zu halten und locker zu bleiben. es geht voran mit mir. Wohin? Naja, vermutlich zum "Platz" ... Tatsächlich. Der Verkehrslärm nimmt zu und ich höre das Getrommle und Schallmeigeblase, mit dem die Schlangen und Affen samt den Touris hier in Schwung gehalten werden. Die Frau platziert die Spitze meines Stockes mit einem letzten, entschlossenen "Pröprötarinkabuhlabuhla" auf den Beginn des Platzes und ist weg. Um mich ist es weit und ich fühle die Sonne, die ich in den engen Strassen schon eine ganze Weile lang nicht mehr gespürt habe.
Hier ist also der Platz, aber wo ist das Hotel Ali. - Ich habe gelernt und lerne jeden Tag wieder, dass es hilft, wenn ich mich bewege. Es hilft, weil ich mehr auffalle und weil ich selber auch ... Hopla! "Bonjour, direction du hòtel Ali?" Der Mann, den ich gestreift habe, nimmt mich an den Schultern und dreht mich um 90 Grad. "Tous drois." - Geradeaus ... bedeutet mitten hinein ins Gebrodel von Schallmeien und Trommlern und Lautenspielern ... Hinein in die grosse difuse Weite des Platzes, auf dem Onur, der längst wieder in Rom ist, mir gestern von den Schlangenbeschwörern und den kleinen angeketteten Affen erzählt hat. Swisch swisch swisch ... Ich kann nur hoffen, dass die Schlangenbeschwörer auch ein wenig auf mich aufpassen, falls ich ihnen zu nahe kommen sollte. Swisch swisch swisch. Das Hotel Ali kann nicht weit sein.
"Brapölepölepölepei zach". Wiedr verstehe ich nicht, um was es geht, doch ich ergreife die Gelegenheit und frage: "Hôtel Ali". "Prölepröle zach tack pröle?" Ich sage noch einmal "Hôtel Ali", doch die Frau scheint nicht zu verstehen. Da zeige ich die Visitenkarte des Hotels, die ich mir zwei Stunden zuvor von der freundlichen Frau an der Rezeption habe geben lassen - "just in case I get lost". Ein Mann hat sich zu uns gesellt. Er studiert die Karte, und ein Mädchen, höchstens 8 oder 9 Jahre alt, nimmt mich an der Hand und führt mich quer durchs Gewimmel über ein paar Strassen zu - naja, ich nehme an, zu meinem Hotel. Ich überlege, ob ich ihr ein oder zwei Dirham geben soll. ich überlege es immer, wenn mich jemand ein paar Meter weit bringt und viele bitten mich nach einer solchen Hilfestellung auchh darum. Doch ich habe eigentlich scchon vor zwei Wochen in chefchaouen beschlossen, dass ich nicht für jede Hilfe bezahlen will. Bei Erwachsenen sage ich deshalb jetzt oft: "ich bin froh, wenn Sie mir helfen können, aber es hat nichts mit Geld zu tun." Das klingt vielleicht etwas grob in unsern Ohren, aber damit wird die Lage für alle Beteiligten klar.
ich weiss nicht, worran das Mädchen denkt, während wir über den Platz gehen. Vielleicht hofft sie auf etwas Geld? Als wir nach drei Minuten beim Hotel Ali sind sage ich ihr "Merci mille fois, c'était très gentil", und sie sagt: "Au revoir". Das war also meine heutige Übungsstunde in Sachen auf eigenen Beinchen durch die Welt. (...)."

Auszug aus einem Brief an Johanna vom 4.12.2010