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Von Tigern und Wanzen. Entwicklungszusammenarbeit und der Clash of Civilisations. Februar / März 2011

Allmählich komme ich hier an. Wir arbeiten viel. meine Hoffnungen steigen und meine Bedenken auch: Wenn, dann braucht die PPU JETZT Unterstützung! Aber kann man ein solches Projekt tatsächlich unterstützen?

Gruppenfoto vor der Uni

Gruppenfoto vor der Uni

Eine Uhr für die UPP und davon, dass man sich Sorgen hier nicht leisten kann, obwohl man sie sich vielleicht dringend leisten müsste!

Die UPP scheint weiter auf gutem Weg. Am 14. Februar hatten wir die erste reguläre Schulversammlung. Zwei Stunden grosse Debatte über Pünktlichkeit und Eigenverantwortung. Ein paar Entschlüsse und Mitteilungen. Alain und Martha haben die Versammlung geleitet. Alain war danach zwar fix und fertig: wie auf einem Schiff im Sturm sei es gewesen, doch er war sehr zufrieden. "Plötzlich war ich da, vor allen, und hab gemerkt, he, ich mach etwas! Die wollen, dass ich das mache!"

Alain ist wach und neugierig und nimmt das, was wir hier wollen, auf wie einer, der seit Jahren auf diesen Moment gewartet hat.

Nach der Schulversammlung sitzen wir noch lange zusammen und reden. Er bittet mich, unbedingt wieder zu kommen, entweder wegen der UPP oder wegen ihm. "Ja, weisst du, ich habe noch nie mit einem Mann von deinem Alter so gesprochen, so - naja, wie mit einem Kollegen oder einem älteren Bruder ...".

Alain ist nicht nur Montags und Freitags mein Helfer; er ist auch in der kleinen Gruppe fortgeschrittener EnglischstudentInnen, die ich jeden Nachmittag nach dem Psychologiekurs unterrichte. Wir haben also reichlich Gelegenheit miteinander zu reden. Dabei drehen sich die Gespräche natürlich immer wiedr um die UPP und ihre Weiterentwicklung. "Weisst du, seit du hier bist bewegt sich so Vieles. Ich habe plötzlich gemerkt, wie wichtig es ist, dass wir lernen mit der Zeit umzugehen. Ja, wir haben bis jetzt nie über diese Sache nachgedacht, aber wenn wir wirklich etwas verändern wollen, dann müssen wir uns auch in der Richtung entwickeln."

Am nächsten Mittag kommt er zu mir und erzählt, dass er in der Versammlung vom kommenden Montag den Vorschlag machen will, dass die UPP sich eine Uhr anschaffen soll. "So eine richtig grosse, wie sagt man: Clock! Jaaa, Clock! Und alle sollen etwas spenden, damit es die Uhr von uns allen ist!"

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Die Uhr ist angeschafft, aber einen rechten Platz in unserem Leben hat sie noch nicht gefunden.

So gut der Start in die Woche war, so zäh waren die Tage seit Dienstag. Es gibt so viele grosse und kleine Hindernisse und Verzögerungen in der Arbeit, dass ich zunehmend Mühe habe, geduldig zu bleiben.

Heute früh wollte ich mit Massemo in die Stadt zum "Cyber". Auf dem Weg zum Rundell hielt ein Mototaxi. Der Fahrer wollte 1,000 Francs für die Strecke, die gestern noch 400 bis 500 Francs gekostet hat. Ich habe bloss den Kopf geschüttelt und bin weiter gegangen. Innerlich hab ich mich geärgert, denn viele verdoppeln hier ihre Preise, sobald sie es mit einem Weissen zu tun haben. Am rundell angekommen haben wir dann jedoch erfahren, dass der Benzinpreis über Nacht von 1,500 Francs auf 2,500 Francs pro Liter gestiegen sei und dass damit auch alle Fahrten teurer seien. Also war's nicht der Weissen-Effekt. Das hat mich beruhigt, Gleichzeitig hat mich diese Preiserhöhung jedoch so sauer gemacht, dass ich das ich plötzlich nur noch Weg wollte von hier. Ich habe Massemo gesagt, dass wir nicht in die Stadt fahren, sondrn umkehren würden. Dann habe ich ihm meinen Ärger zu erklären versucht: "Weisst du, es kommt mir vor, wie wenn sie euch an der Gurgel haben, und mit euch machen, was sie wollen: Benzin heute soviel und morgen dass Doppelte, und ihr sagt nur, das ist eben der Kongo!" Hier angekommen haben wir lange mit Robert gesprochen. Ich habe ihm gesagt, was ich schon Massemo gesagt hatte. "Es interessiert mich nicht einmal, weshalb das Benzin teurer geworden ist, es macht mich einfach total sauer! Wasserhahnen in den Häusern und kein Wasser! Eine Stadt und kein Strom! Die fruchtbarsten Felder und kein Wohlstand ... und dann einfach so, nebenher, von einem Tag auf den andern, 60% mehr für das Benzin bezahlen! Da fühl ich mich einfach verarscht ...".

Die beiden reagieren hilflos. Es ist eben so, wie es ist. Dann beginnt Robert zu erzählen über die Politik der letzten Jahre, über den Präsidenten Joseph Kabila und seinen zweifelhaften Ruf, über die im November anstehenden Präsidentenwahlen und die Versuche Kabilas und seiner PPDR (People's Party for Reconstruction and Democracy), die Kandidaten der Opposition durch verschiedene Verfassungsänderungen zu sabottieren. So habe das Parlament beispielsweise eine Verfassungsänderung gut geheissen, nach der der Präsident nicht mehr in zwei, sondern in einem Wahlgang gewählt wird. Man rechnet offenbar damit, dass sich die Kandidaten der Opposition unter diesen Umständen gegenseitig so viele Stimmen abjagen, dass Kabilaa die Wahlen problemlos gewinnen wird. Inzwischen scheint sich die Opposition jedoch weitgehend hinter Vital Kamerhe gestellt zu haben, sodass die Rechnung Kabilas vielleicht nicht aufgeht. In diesem Zusammenhang erzählt Robert auch von der Unterdrückung der öffentlichen Meinung, von Einschüchterungsversuchen gegenüber der Presse und von der Ermordung all zu kritischer JournalistInnen ... Ich habe wieder einmal das Gefühl, keine Ahnung zu haben, wo ich überhaupt bin. In mir sammeln sich allmählich immer mehr Geschichten. Es sind Geschichten aus der heissen Phase des Krieges (1996 bis 2003): Massenvergewaltigungen, Verwüstungen von Dörfern, barbarisches Schlachten von Kindern und Säuglingen ... AIDS und Prostitution als Folgen des Krieges ... Geschichten von Fehl- und Unterernährung, von Hunger und mangelhafter medizinischer Versorgung,von tödlichen Kinderkrankheiten. Geschichten von Geistern und Dämonen, die hier in allen Köpfen spuken ... Geschichten von Korruption und Inkompetenz ...

Ich sitze in einem der schweren hölzernen Lehnstühle im Büro der UPP und höre Robert zu. Dabei denke ich an die Monotonie des hiesigen Lebens, an Die Isolation und Abgeschlossenheit von der übrigen Welt, an die daraus resultierende Unwissenheit und Unbeholfenheit bei einfachsten Dingen ... ich denke an den übermässigen Respekt vor Vorgesetzten, hinter dem sich oft einfache Angst verbirgt. Nein, ein frohes Land ist das hier nicht und kein frohes Volk! - Natürlich ist der Vorfall mit dem Benzin eine Lapalie. Ich habe offenbar keine grossen Reserven mehr, sonst hätte mich die Sache nicht so aus dem Gleichgewicht gebracht.

Massemo sagte mir vor einigen Tagen: "O, wenn ich mir Sorgen machen würde, wäre ich längst tot, nein Sorgen, das können wir uns hier nicht leisten!" Jetzt sitzt er da und hört zu. Er ergänzt immer wieder aus seiner Sicht. Er leidet an seinem Land, doch was soll er tun! Ich kann sagen, mir reicht's, ich gehe. Macht euren Scheiss allein, aber er? Er muss bleiben. Er und all die andern.

Wir sprechen vom Gefühl der Hilflosigkeit und von der heiteren Resignation, in die sich viele hier zu flüchten scheinen. Es ist Notwehr, eine Möglichkeit, seelisch einigermassen über die Runden zu kommen. Ich frage Massemo, ob er sich nie über sein Land ärgere, und ob er auch schon daran gedacht habe, sich politisch zu engagieren. Er sagt: "Ich bin so enttäuscht von unserem Land, von der Politik und allem. ich habe deshalb auch aufgehört, kongolesische Nachrichten zu hören. Es ist wie wenn ich jeden Tag gift essen würde. Mein Vater sagt immer, du musst dich informieren, aber ich mag nicht!"

Ich denke daran, dass hier beinahe alle zu irgend einer Kirche gehören und dies nicht nur pro forma, sondern mit ganzer Seele. Allmählich verstehe ich: Diese Kirchen sind ihre Heimat, ihr Dorf, ihr Quartier, ihre Familie. Hier spüren sie, was sie in ihrem Land nicht spüren. Solidarität und Geborgenheit statt Austrixerei und Gleichgültigkeit ... Ich verstehe, aber gefallen tut es mir nicht. Eine sich selbst überlassene Bevölkerung ohne Zukunft, ohne Führung und ohne Perspektiven.

Projektplanung im Psychokurs, Daniel und noch eine Rede zum Thema Landwirtschaft

Am Nachmittag wird meine Laune etwas besser. Wir haben im Psychokurs vor zwei Tagen angefangen, an individuellen Projekten zu arbeiten. Das wählen der einzelnen Projekte und ihre Präzisierung war zwar ein zäher Prozess, doch so nach und nach kommt dabei doch einiges heraus. So liess ich die Gruppe heute allein mit dem Auftrag, sichh bei der Präzisierung ihrer Projekte gegenseitig zu helfen, während ich in meinem Zimmer sass und die Studierenden mir der Reihe nach ihre Arbeitspläne vorstellten. Es war gut, weil ich auf diese Weise erstmals mit allen in ein persönliches Gespräch gekommen bin. Zugleich sind einige der Projekte wirklich interessant und die Lust zu arbeiten scheint relativ hoch. Gerettet hat den Tag allerdings Daniel, der um 16:00 überraschend in meinem Englischkurs sitzt. Sonst ist nur noch Heri hier. Alain und Babu sind nicht da. Später erfahre ich, dass Babu wieder einmal krank war - er hat oft Kopfweh -, und Alain einen Freund besucht hat, der einen Motorradumfall hatte und operiert werden musste ...

daniel ist Student hier, war jedoch ein paar Wochen in geschäftlicher Mission in Capalla, der Hauptstadt Ugandas, sodass ich ihn bis jetzt nicht kennengelernt habe. Sein englisch ist für hiesige Verhältnisse sehr gut, und er scheint ein engagierter und energischer Mensch zu sein. Wir sprechen zwei Stunden lang angeregt über alles mögliche. So sollten Englisch-Konversationskurse immer laufen!

Auch an Heri habe ich Spass. Er mag es offenbar, wenn ich mich so richtig um ihn kümmere. Lesen und schreiben könne er gut, aber reden, das sei schwer, sagt er, und tatsächlich ist seine aussprache ein Desaster. Er arbeitet als Journalist bei einem lokalen Radio- und Fernsehsendr und möchte dort auch englische Nachrichten verlesen und Interviews auf englisch führen. Das scheint der Schlüssel für die Arbeit mit ihm. ich bitte ihn, mich zu interviewen. Er reagiert sofort, denkt kurz nach und beginnt dann: "Mr. Martin, yoou are an expert of education. So can you tell our listeners where youu see our schools in Uvira compaired to the schools in your country?"

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Heri, Alain und ich - Speerspitze des technologischen Fortschritts

Nach einer Weile schlägt Daniel vor, dass Heri mich nicht nur fiktiv, sondern bald einmal real an seinem Radio interviewen soll. Dann spricht er von seinem interesse an Entwicklungsfragen und von seinem Wunsch, im ausland zu studieren. Er träume davon, eines Tages in seinem Land eine wichtige Rolle zu spielen. Wir geraten in ein heftiges Gespräch über die Zukunft deer hiesigen Landwirtschaft und um die Möglichkeiten und Risiken bei ihrer entwicklung. ich erzähle Daniel von den Palmölplantagen in Mosambique mit denen die europäer auf Kosten der lokalen Bevölkerung ihre sauberen Biogasanlagen betreiben. Ich weiss nicht, ob ich hier etwas durcheinander bringe; ich habe nur das dringende Gefühl, dass die Gegend hier gefährdet ist. Haben die Chinesen nicht vor zwei oder drei Jahren halb Madagaskar gepachtet, um nahrungsmittel für ihre Bevölkerung anzubauen? Und wie ist es mit Delmonte oder Nestley und wie die grossen Lebensmittelkonzerne heissen.

Ich sehe, wie sich die Gegend hier verändert, wie die lokale Bevölkerung mit schönen Worten und Drohungen zur Aufgabe ihrer Felder gebracht wird. ich sehe grosse Monokulturen: Riesige Ananas- und Palmölplantagen und Reis für China so weit das Auge reicht, während die Menschen hungrig und voll Sehnsucht den grossen Maschinen zuschauen, die jetzt über ihre Felder rollen. Ich sehe die Slums um Kinshasa und die entvölkerten Dörfer ...

Der Konversationskurs gerät zwischenzeitlich etwas ausser Kontrolle. Ich weiss nicht, weshalb mich dieses Thema seit ein paar Tagen so beunruhigt, doch ich habe das Gefühl, dass die Menschen hier gewarnt und aufgeweckt werden müssen, denn sie scheinen so ahnungslos.

Rede ich zu viel? Übertreibe ich? Ich rede und zweifle an mir, doch Daniel scheint interessiert. Er erzählt seinerseits von einigen Konflikten um Landbesitz und Verkauf, die hier in der Gegend in den letzten Jahren zu zum Teil heftigen Protesten geführt haben. Wieder taucht die Idee einer Konferenz zum thema der ländlichen entwicklung auf. Daniel stimmt mir zu: "Wir müssen über diese Dinge nachdenken, um zu wissen, wohin wir wollen". Ich bin froh, dass er hier aufgetaucht ist, denn Uvira braucht starke und kämpferische menschen, nicht nur philosophisch heitere Träumer wie Massemo!

Am nächsten Vormittag fahre ich mit Alain zum "Cyber". Er schaut sich einige Angebote im neu entdeckten E-Bay an und bastelt ein wenig an seiner "Nachbar-Net"-Webseite. Ich lade einiges zum Thema "organic agriculture and development in Africa" herunter. Das Gefühl, dass sich am Horizont von Uvira ein paar dunkle Wolken zusammenballen lässt mich seit Donnerstag nicht los. Allerdings sind zwei Stunden Internet viel zu wenig für all die Fragen, die mich hier beschäftigen und für die vielen Mails, die ich schreiben möchte und schreiben muss. Ich merke, wie ich darauf warte, dass wir hier endlich Strom haben, sodass ich an der Zusammenfassung des Psychokurses oder an dem Papier über die Unterrichtsgestaltung an der UPP arbeiten oder meine Tagebucheintragungen vervollständigen kann ohne dauernd unterbrochen zu werden, weil der Aku meines Netbooks wieder leer ist. Nur eben. In mir drängt es, doch äusserlich stagnieren die Dinge: Ein Brief wurde bei der nationalen Stromgesellschaft SNEL hinterlegt: 6 Parteien hier im Quartier sind daran interessiert, dass das Stromnetz bis hierher ausgebaut wird. Ein Experte wird kommen und prüfen, wie viel dies kosten wird, dann wird man entscheiden, ob und wie man die kosten unter sich aufteilt ... und danach - irgendwann -, wenn wir vielleicht endlich Strom haben, kommt das Thema Internet ... Dabei bin ich jetzt hier und möchte jetzt arbeiten!

Schlechte Laune, Selbstmitleid und Rassismus auf südafrikanisch

Am Samstag, dem 19. Februar wache ich um 06:30 auf. Im Clo nebenan hat jemand Wäsche gewaschen und gesungen. Ich dachte, es sei Vicky der Nachtwächter, doch er behauptete, es nicht gewesen zu sein. Ich habe versucht, die Störung meines Schlafes gelassen zu ertragen. Rücksichtnahme auf Langschläfer kennt man hier offenbar nicht. Irgendwann bin ich wieder eingeschlafen. Gegen achht fing's an zu regnen. ich habe das Fenster geschlossen und bin noch einmal ins Bett. Jetzt giesst es wie aus Kübeln! Ich döse vor mich hin. Plötzlich merke ich, dass ich nass werde! Tatsächlich bläst der Wind den Regen durch den Lüftungsschlitz über meinem Fenster. Auf dem boden ist schon eine Riesenpfütze, meine Kleider über der Stuhllehne sind feucht-nass, und auch die Kissen des Lehnstuhles neben dem kleinen tisch sind nass! Es ist wie vor zehn Tagen. Genau dieselbe Überschwemmung. Ich bringe die Kissen in Sicherheit und ziehe mich an.

Ich bin nicht in Form. Man sollte Geduld haben und heiter sein. Doch ich habe westliche Scheisslaune. Dieses Haus hier ist ein Neubau, und doch wackelt der Wasserhahn im Bad schon jetzt so, als ob er vor 60 Jahren montiert worden wäre, und der Spülkasten beim Clo ist ebenfalls bereits kaputt. Die Beschläge für meine Türfalle sind unten mit zwei Schrauben befestigt, oben fehlen die Schrauben! Und dann die vorhänge vor den Türen! Zwei haben sie in dieser Woche aufgehängt, und beide so, dass sie eingeklemmt werden, wenn man die Türen schliesst. Ich frage Robert, ob es nicht besser wäre, die Vorhänge so anzubringen, dass man die Türen auf- und zumachen kann, ohne sie jedesmal einzuklemmen. Er schaut sich die Sache an und sagt: "O ja, es wäre wirklich besser. Ich werde gleich den Auftrag geben ...". Ich tippe mir innerlich an die Stirn. Alain sagt, "weisst du, junge Menschen stellen bei uns keine Fragen. Sie tun einfach, was man ihnen sagt." Und die Pfütze in meinem Zimmer? Was haben sie sich gedacht, als sie die Lüftungsschlitze gemacht haben, und wann wird jemand auf die Idee kommen, einen Regenschutz vor denSchlitzen anzubringen oder sie zuzumauern? Was, wenn auf meinem Tisch Papiere oder Bücher liegen würden, und was, wenn dies in der schönen Bibliothek, die wir irgendwann zu haben hoffen, geschieht?

mit meiner Stimmung würde ich gut in einen der Clubs passen, indem die weissen Kolonialherren in Afrika oder China vor hundert Jahren über die dummen Neger und Chinesen geschimpft haben ... Ich müsste gelassen sein, doch ich bin es nicht. Ich müsste heiter Raum um Raum durchschreiten, stattdessen steh ich mufflig da und habe schlechte Laune, und draussen giesst es noch immer in Strömen.

Gilbert, der hier tagsüber so eine Art Hauswart ist, ist inzwischen dabei, den Boden aufzuwischen. Er hat mir gestern Abend gesagt, dass er nach Südafrika gehen würde, wenn er das Geld dazu hätte. "Hier kommst du einfach nirgends hin. Ich habe zwei kleine Kinder, aber ich verdiene nichts. O, unser Land. Es ist schlimm." Südafrika oder Europa, das scheinnen die beiden Orte, von denen man hier träumt. Dabei sind beide problematisch, auch Südafrika.

Im Jahr 2007 kam es dort zu Ausschreitungen zwischen Südafrikanern und kongolesischen Arbeitern. Man will diese nicht in Südafrika, weil man befürchtet, dass sie einem die Arbeit wegnehmen. Ein ca. 35jähriger Mann, der damals dort war, und jetzt in unserem quartier als Lehrer arbeitet, erzählt: "Man hat mich dort unten aus einem fahrenden Zug gestossen. Ich war zehn Tage im Koma und ein halbes Jahr im Spital. Zum Glück war die Pflege dort ausgezeichnet. Aber jetzt bin ich wieder zurück. Bis vor kurzem konnte ich noch nicht ohne Stock gehen. Meine ganze linke Seite war gelähmt. Ja, wenn ich Geld hätte. In Europa könnte man mir vielleicht helfen." Europa und Südafrika; dasselbe Spiel überall, wo es Geld gibt. Ich frage Gilbert nach den Spannungen. Er sagt, es sei im Augenblick etwas besser, aber im Grunde sei es schon so, dass sie in Südafrika nicht willkommen seien. Dabei wischt er geduldig neben mir auf, während ich ungeduldig auf dem Bett liege und vor mich hinbrüte.

Eigentlich sollte Kipoussa heute früh kommen. Inzwischen ist es nach neun. Er ist nicht da. Mein Aku ist leer. Im Cyber gäbe es Strom und eine brauchbare internetverbindung. Aber soll ich schon wiedr dorthin? Soll ich schon wieder 6 Dollar für etwas ausgeben, was in andern Weltgegenden rund um die Uhr beinahe zum Nulltarif zu haben ist?.

A propos Geld: ich habe schon zum zweiten Mal das Gefühl, dass mir etwas geklaut worden ist. Ich hatte doch noch etwa 20 Dollar und auch kongolesische Francs müssten noch mehr da sein, stattdessen finde ich in meinem Portemonnaie nur noch einen Dollar ... Soll ich etwas sagen? Soll ich zuwarten? Vielleicht täusche ich mich ja. Ich will nicht alle hier verdächtigen, und gleichzeitig bin ich eigentlich sicher, dass jemand an meinem rucksack war ...

ich beschliesse, etwas gegen meine schlechte Laune zu unternehmen. Wir haben einen Generator. Es ist zwar absurd, für mein kleines netbook diese Höllenmaschine laufen zu lassen, aber ich will ... mit dem Kopf durch die Wand? Ja! mit dem Kopf durch die Wand! Geduldig sind hier alle, vielleicht ist ein wenig Ungeduld nicht schlecht! Ich frage denn Herrn Pasteur, ob er den Generator anwerfen könne. Er sagt ja. Nach einer Viertelstunde ist noch nichts geschehen. Ich frage noch einmal. Er sagt, ja. Ich frage, ob er Geld brauche, um Diesel zu kaufen. Er sagt, ja, etwa 4,200 kongolesische Francs, viereinhalb Dollar. Ich habe noch etwa 2,000 Francs in meiner Hosentasche und den einen Dollar in meinem Zimmer. Ich drücke ihm alles in die Hand und sage ihm, dass nicht mehr da sei.

Nein, die Stimmung ist nicht gut! Das wird nichts werden hier. Es gibt zu viel, das nicht funktioniert. Vielleicht, wenn man die Erwartungen ganz tief ansetzt, ja dann. Aber wenn ich den Betrieb hier an meinen Erwartungen messe, dann sehe ich zu viel Defizite, zu viel Schlamperei und Ungenauigkeit. Zuviel grosse Worte und zu wenig kleine Taten!

Nach einer halben Stunde ist das Benzin da. Jetzt dröhnt der Generator und ich versuche mein Glück mit den Mails. Tatsächlich gelingt es, drei neue Mails herunterzuladen. Abschicken kann ich keines. Die Verbindung ist zu langsam.

Geld für die UPP? Die zweite Versammlung der Blinden, mehr Kompliziertheiten und schlechte Laune

Ermutigende Worte aus der Schweiz: Mein Vater hofft, dass ich durchhalte. Er will Geld für Uvira sammeln, bzw. Geld, das ich nach eigener Entscheidung einsetzen kann. Nach eigenem Ermessen? Da würde ich Ousmane unterstützen und vielleicht auch Frau Lundimo, die blinde Lehrerin, die sich hier um die Gründung des Blindenverbandes kümmert. Doch Geld für die UPP? Nein, das ist zu früh. Die äusseren Umstände sind schwierig, und die Kräfte hier sind zu schwach.

Flory ist am Dienstag Abend nach Burundi zurück. Er komme in etwa zwei Tagen. Das wäre am Donnerstag gewesen. Er ist noch immer nicht hier. Heute Nachmittag gibt es ein zweites Treffen der Blinden von Uvira. Man will das definitive Kommittee des künftigen Blindenverbandes wählen. Das provisorische Kommittee wollte zwei Stunden vorher hier sein, um die Sitzung vorzubereiten und nach Möglichkeit mit Robert oder Flory darüber zu sprechen, ob der Blindenverband bis auf weiteres ein Projekt der Stiftung sein könnte, zu der auch die UPP gehört.

Natürlich ist es nicht an mir, über Florys Kommen und Gehen zu urteilen, aber ich frage mich doch, was er in Burundi tut. Die Sache mit dem Blindenverband hat Zeit, aber ich bin jetzt hier. Wenn er mich wirklich brauchen will, weshalb tut er es nicht? Weshalb kommt er nicht mit Block und Bleistift und einem konkreten Anliegen? Er weiss, dass ich hier nicht wirklich gut arbeiten kann. Er könnte sagen: Lass uns nachdenken. Ich schreibe auf und wenn wir Strom haben, können wir die Sachen tippen. Und dann ist da Patric, der "Academique", d.h. der für die akademische Seite der UPP zuständige Mensch. Er muss die Angebote hier koordinieren, sollte Berichte für Kinshasa schreiben, müsste die Volunteers einarbeiten und die Studierenden coachen, doch seit ich hier bin, war er höchstens ein oder zweimall anwesend. Er sei krank, heisst es. Das mag sein, aber wer betreut die Studierenden hier, während er krank ist? Wer stellt sicher, dass das, was wir hier tun, in das grosse und ganze passt? - Natürlich ist es nicht schön, schlechte Laune zu haben, und doch: Es ist vielleicht ganz gut, die Dinge hier nicht allzu unkritisch anzusehen, bevor ich in Europa offiziell für die UPP werbe.

Inzwischen ist das Meeting der Blinden vorüber. Es kamen weniger Menschen als am 8. Februar. Mit Schuld ist vielleicht der Regen. Das provisorische Kommittee war zu dreifünfteln anwesend. Robert kam ungefähr eine halbe Stunde zu spät, nett wie immer, aber sonst eher nervig. Ich hatte Padri gesagt, er solle mich holen, wenn sie mich wollten oder brauchten. Nun, er kam nicht, aber am Ende war man betrübt, dass ich nicht zu der Versammlung gesprochen habe.

Ich frage Padri, weshalb er mich nicht geholt habe. "robert sagte, du seiest beschäftigt." Tatsächlich kam Robert mal zu mir und fragte mich, ob ich der Versammlung noch etwas sagen wolle oder ob Frau Lundino Schluss machen könne. ich habe ihm gesagt, dass sie dies entscheiden müsse. Wenn sie mich wolle oder brauche, komme ich gerne. Damit ist er gegangen. Verstanden haben wir uns offenbar nicht. Er hat einen furchtbaren Respekt vor mir und macht damit vieles sehr kompliziert! Die Blinden wollen sich jetzt am 12. März noch einmal treffen, in der Hoffnung, dass ich dann Zeit für sie habe. Was für ein Unsinn!

Ich wurde wütend wie noch nie, seit ich hier bin! Ich bin zehn Meter entfernt, aber um zu mir zu gelangen wird ein Zirkus gemacht wie wenn ich der Präsident der Republik wäre! Es ist nicht nur Robert, der seine Rolle als zeremonienmeister der UPP ohne weiteres Nachdenken spielt; es sind auch all die andern, die ihn unterwürfig um Erlaubnis bitten, ein Buch ausleihen oder mich sehen zu dürfen. Das ganze ist hiesige Kultur: Respekt und bescheidenes Abwarten, wenn die Obrigkeit nicht nickt ... Dabei kann die Obrigkeit auch Gilbert oder Madame Pasteur heissen und auch die Namen der Opfer wechseln. Die Menschen mit ihrer Geduld tun mir leid.

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Ich und Alain auf dem Weg zum Intenetcafé 


Padri sagt mir, er sei gestern hier gewesen, doch haabe man ihm gesagt, ich schlafe noch. Ich war im Internetkaffee. Doch vielleicht war's ganz gut, dass wir uns verpasst haben, denn es scheint, dass er mich um Geld für den Larousse bitten wollte. Das hat er heutte jedenfalls getan. Steht neben mir und fragt plötzlich: "Und, Papa, der Larousse?" Ich war ziemlich platt. Er ist ein lieber Kerl, aber diese Frage.

Vielleicht hätte ich ihm erklären sollen, dass es mich verletzt, wenn ich von allen Seiten so plump angegangen werde, und dass ich wenn schon, dann der UPP einen Larousse schenken würde, dann könne er hierher kommen und nachschlagen, was er nachschlagen will. Ja, das hätte ich wohl sagen müssen, aber stattdessen hab ich nur gesagt, "Padri, ich bin keine Kuh, die man einfach so melken kann. Geh du jetzt rüber zu der Versammlung und wenn ihr mich braucht, dann hol mich."

Für Gott ist kein Opfer zu gross, oder you can do it, if you really want!

Ja, die Kuh, die man melkt. Vorgestern Abend kam eine Frau, die hier einen Gebetsraum führt. Solche Räume können zu einer Kirche gehören, doch kann eigentlich jeder irgend ein Zimmer zu einem Gebetsraum umfunktionieren, und dort allein oder mit anderen so lange beten, bis er oder sie eine Vision geschenkt bekommt. Nun, die Frau erzählte, dass Gott mich auserwählt habe, ihr bei der Verwirklichung eines Traumes zu helfen. Sie will nämlich ein Stück Land kaufen und darauf eine Kirche und ein Spital bauen. Naja, und da gibt Gott mir also die Chance, als Geldgeber einzusteigen! ich sage, dass mein Bruder mir vor kurzem mitgeteilt habe, dass mein Geldd so gut wie aufgebraucht sei, doch bin ich mit dieser halben Lüge noch nicht aus dem schneider: O, wenn ich nur das Geld zum Kauf des Grundstückes habe, dann sei das auch gut! Über den Rest könnten wir ja dann später sprechen ...

Ich sitze da und verkneife mir das Lachen. Eigentlich wollte ich mit Martha und Alain über die nächste UPP-Versammlung sprechen, aber die Dame kam so feierlich daher, dass ich jetzt andächtig auf meinem Stuhl sitze und warte, bis der Spuk zu Ende ist. Robert hat sich zu uns gesellt und erklärt ihr jetzt irgend etwas auf Suaheli. Nachdem die Frau noch für mich gebetet hat, geht sie. Ich bin etwas ratlos. In der Schweiz würde ich sagen, ziemlich dreisst, aber hier? Gott und die Religion spielen hier eine grosse Rolle. Da drehen manche vielleicht ein wenig durch. Eine harmlose Heilige also? Ich weiss es nicht. Doch wächst meine Sehnsucht, nach realen Menschen und vernünftigen Gesprächen. zwischen all diesen Heiligen und Spinnern ersaufe ich allmählich!

Der Mensch erholt sich; die UPP lebt weiter

Flory kam am Sonntag, dem 20. Februar gegen Abend. Er ist krank gewesen. Ich war noch immer in schlechter Laune. Eigentlich habe ich das ganze Wochenende nur gewartet: Am Samstag auf Kipoussa und am Sonntag zuerst auf Babu, der nicht gekommen ist, und dann auf mein Netbook. Sein Aku war gegen ein Uhr leer, doch hatten die Blauhelme bis um fünf Uhr keine Zeit, das Ding an ihr kostbares Stromnetz zu hängen. Gegen Abend war ich so gefrustet, dass ich in unser "Auditorium" gegangen bin und mir den ganzen Frust von der Seele gesungen und aus dem Körper getrommelt habe. Das war gut. Dann stand Flory in meinem Zimmer und hat sich nach meinem Ergehen erkundigt. Ich habe ihm von meinem Frust erzählt, auch von Robert und dessen Unbeholfenheit, von meinen Bedenken in Bezug auf die Zukunft der UPP und vom Gefühl, mich hier vor allem zu langweilen, während es eigentlich tausend Ddinge zu tun gibt. Ich erzähle ihm auch davon, das ich den Eindruck habe, beklaut worden zu sein. Flory hört sehr aufmerksam zu, und meine Laune wird etwas besser. Was Robert angeht, so beschliessen wir, unsere Aktivitäten von jetzt an besser zu koordinieren. Wir beginnen gleich am Montag vormittag. Robert, Flory, Allain und ich sitzen eine Stunde zusammen und besprechen, was wer in dieser Woche tun muss. Dabei kommt u.a. die Schulgeldfrage zur Sprache, und ich höre mit Erstaunen, dass viele Studierende erst 10 oder 20, statt 150 Dollar bezahlt haben.

Der Montag Nachmittag ist gut. Im Psychologiekurs arbeiten wir sehr intensiv am zweiten Teil meiner Zusammenfassung, und in der UPP-Versammlung um vier rufen wir drei Arbeitsgruppen ins Leben: Drei Studierende kümmern sich darum, dass alle StudentInnen bis Ende März mindestens 50 Dollar Schulgeld bezahlt haben. Neben diesem temporären "Committée de sensibilisation" rufen wir eine bibliotheks- und eine Publicity-Gruppe ins Leben. Ich bin ein Mitglied der bibliotheksgruppe, die sich auch mit der Einrichtung der zu schaffenden Computerarbeitsplätze befasst. Die Publicity- and Networking-group werde ich bei Bedarf unterstützen. Die Stimmung ist gut. Wili, der Chef der Bibliotheksgruppe kommmt nach der UPP-Versammlung zu mir und fragt, ob es okay ist, wenn er sich um einen Termin für die erste Sitzung der Gruppe kümmert. Es ist eine simple Frage, doch für mich sind es Vorboten des Frühlings! Hier handelt jemand und übernimmt Verantwortung. Ich bedanke mich bei ihm und sage ihm, dass dies genau das sei, wovon wir hier sprechen: Probleme erkennen, mitdenken, handeln ... Wili ist super. Wir treffen uns am folgenden Vormittag um 10:00. Die guten Momente wechseln allerdings nach wie vor sehr schnell mit übelster Laune. Es ist als ob meine Geduldsinselchen immer kleiner werden. Die Wasserlinie der Ungeduld steigt. Der Friede ist gefährdet ...

Ich beobachte mich, versuche meine wechselnden Launen zu begreifen und auch nach ausssen verständlich zu machen. Mit Alain habe ich ein langes und höchst spannendes Gespräch über "the clash of civilisations". Ich sage ihm, dass wir genau darauf zusteuern, wenn wir nicht aufpassen. Ich werde immer ungeduldiger und tyrannischer in meinem Drang, hier alles auf einen guten Weg zu bringen, und um mich her werden alle immer stummer und ängstlicher, ziehen sich innerlich zurück und schreiben mich ab. Am Ende kommt es entweder zu einem grossen Eclat oder zu einem langsamen Tod. Wir erleben hier im kleinen, womit die Welt sich im grossen herumschlägt: der zusammenstoss verschiedener Mentalitäten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten. Dabei sind es nicht die grossen Dinge, die mich am meisten stressen, sondern die kleinen banalen Missverständisse und Hemmnisse, die hier mein täglich Brot und meine täglich Not sind. Mit den grossen Dingen kann man kämpfen, aber mit diesen beinahe unsichtbaren Nichtigkeiten? Ich denke an ein Brechtzitat, auf welches ich vor Jahren gestossen bin, und fühle mich etwas getröstet: "Den Haien entrann ich, Die Tiger erlegte ich, Aufgefressen wurde ich Von den Wanzen!"

Ja, die Wanzen! Es ist auch dann schwierig, wenn auf allen Seiten guter Wille da ist. "Ihr wollt, dass ich helfe. Ihr seid freundlich und interessiert, und ich will helfen und freue mich hier zu sein, und doch beginnen wir uns zu hassen, fangen an, herablassend oder zynisch voneinander zu sprechen, unfreundlich zu reagieren ...". Für mich ist der Druck grösser, denn ich bin hier der einzige "Weisse"; die andern sind Viele; sie können sich in ihrer Gruppe und in ihren Gewohnheiten erholen. Ich bin der Fremde in der Fremde, habe nur wenig Vertrautes, auf das ich mich zurückziehen kann. Alain ist interessiert; er hört zu und denkt mit. Ich sage ihm, dass die UPP nicht so funktionieren müsse, wie ich mir dies vorstelle. Doch wenn ich höre, sie wollten sich entwickeln, wollten raus aus ihrer Armut, wollten einen funktionierenden Staat und eine gute Ausbildung etc. etc., dann müssten wir uns über Dinge wie Püntlichkeit, Genauigkeit in der Arbeit, Verlässlichkeit und Zielstrebigkeit unterhalten, ja dann müsste ich mit ihnen über solche dinge streiten, denn aus meiner sicht sei Entwicklung im westlichen Sinn nur zu haben, wenn sie sich in dieser Richtung zu bewegen beginnen. "Wenn ihr mir sagt, wir wollen das nicht; wir wollen unsere Gemütlichkeit und unsere Menschlichkeit nicht der Schweizer Uhr opfern, wir sind Afrikaner und wollen Afrikaner bleiben, dann respektiere icch das; ja das könnte sogar viele Menschen im Westen beeindrucken. Vielleicht wäre es das Richtige." "Ja, aber daran denken wir ja auch nicht. Wenn wir dies bewusst entscheiden würden, dann wäre das etwas anderes. Aber daran denkt hier so gut wie niemand. Man will gute Strassen im ganzen Land und eine zuverlässige Verwaltung und all die anderen Dinge, die es in Europa gibt. Und nein, Monsieur Martin, sie dürfen nicht aufhören, ungeduldig zu sein. Es ist die kongolesische Krankheit, an der wir leiden. Wir müssen lernen, pünktlicher zu sein und all das .. ... Nicht aus Angst, nicht weil Martin sonst böse wird, sondern weil wir vorankommen wollen."

Vom fehlenden Geld, dem Zusammenstoss der Kulturen und den afrikanischen Werten

Ein oder zwei Tage nach der UPP-Versammlung vom 21. Februar habe ich mit Robert und Flory über das budget und den Geldbedarf der UPP gesprochen. Dabei hat sich herausgestellt, dass es ein eigentliches Budget nicht gibt. Weil sie fast kein Geld haben, haben sie kaum Ausgaben vorgesehen. Wie die UPP in der Praxis funktionieren soll, wenn man zB keine Gehälter, keine laufenden Unkosten, keine Investitionen für Computer, Internet oder Bücher vorsieht ist uns allen nicht wirklich klar. Flory hofft auf die Hilfe Gottes. Ich sage, aus meiner Sicht brauche es beides: die Hilfe Gottes und unsere Tatkraft. Ich kann die beiden leicht davon überzeugen, dass es nicht hilft, davon auszugehen, kein Geld zu haben und deshalb nicht mehr realistisch zu planen. wir müssen stattdessen davon ausgehen, dass wir das fehlende Geld auftreiben können. Das fehlende Geld sind rund $15,000, eher etwas mehr, bei einem gesamt Budget von etwa $25,000.

Das Ergebnis dieses Gespräches ist für mich klar: entweder finden die UPP in den nächsten Monaten genug Geld, um eine solide technische und menschliche Basis aufzubauen oder sie steht spätestens im Herbst, wenn 50 oder 60 neue Studierende kommen auf dem Pannenstreifen, denn jetzt können wir zur Not noch ohne Bibliothek und ohne vollamtlichen pädagogischen Betreuer oder "akademischen Direktor", wie es hier heisst, auskommen, aber wenn wir hier 80 oder 100 Studierende sind, geht dies nicht mehr. Schon jetzt ist die von uns gebotene Qualität im Bereich Betreuung / Coaching, Bibliotheksangebot und Computerarbeitsplätze zumindest aus europäischer Sicht sehr mikrig. Noch ein wenig mehr Chaos und Unterbetreuung und die Studierenden laufen uns davon oder, wenn sie dies nicht tun, so wird doch der Ruf der UPP schaden nehmen. Wir müssen also Geld auftreiben. Fund raising muss eine Priorität sein! It's either now or never!

It's either now or never sag ich auch zu Robert und Flory. Am selben Abend schreibe ich ein langes Mail an meinen Vater, der schon seit einiger Zeit davon spricht, für die UPP sammeln zu wollen. Ich habe ihn bis heute immer gebeten, noch zu warten, weil ich selber in Bezug auf die UPP noch keine sichere Meinung habe. Jetzt bitte ich ihn, aktiv zu werden und zu helfen, da wir uns langes Zuwarten nicht leisten können. It's now or never. Wenn wir weiter zuwarten und weiter an allen Ecken und Enden sparen, strangulieren wir uns. Schon jetzt kommen wir kaum mehr voran, weil wir keine richtigen Löhne bezahlen und für jede Photokopie zuerst zur Papeterie rennen müssen, um ein Blatt Papier zu kaufen ...

In einem Gespräch mit flory einige Tage zuvor habe ich mir ein Bild über die Spielräume gemacht, die wir im Bereich unserer Unterrichtsorganisation bzw. bei der Gestaltung des Lernens an der UPP haben. Das Gespräch war ermutigen. So wie ich Flory verstanden habe, sind diese Spielräume beträchtlich, solange wir nach aussen in Kursen zu je 60 Stunden "abrechnen", d.h. das, was wir hier konkret tun, in Schachteln verpacken, die jeweils den Titel eines der Kurse tragen, die der Staat in den diversen Fakultäten vorschreibt. Wie wir die einzelnen Schachteln füllen, können wir weitgehend selber bestimmen.

Nach diesem Gespräch habe ich begonnen, meine Gedanken über die pädagogischen Prinzipien der UPP und über ihre konkrete Unterrichtsorganisation zu Papier zu bringen, bzw. meinem Compi einzuverleiben. Die Arbeit macht Spass, und sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich endlich auch nach aussen für die UPP einsetze. It's now or never!

der Zusammenstoss der Kulturen führt nach wie vor zu grösseren und kleineren Irritationen. Dabei hilft es, diese als interessantes Thema, als eine unserer momentanen Baustellen anzusehen, statt mich nur sinnlos zu ärgern, denn sinnlos ist mein Ärger, sinnlos, aber doch eine tief sitzende Gewohnheit. Tiefsitzend wie bei anderen vielleicht die Gewohnheit ... - Ich weiss es nicht, doch ich überlege, in einer der nächsten Uni-Versammlungen das Thema anzusprechen, oder vielleicht noch besser, drei besondere Tage zum Thema "african and european values and habits" anzubieten, ein Workshop nach dem Psychologiekurs und vor dem Eintreffen der Russen. Wir könnten ihn mit Robert und Flory durchführen, um unsere Erfahrungen miteinander zu besprechen und um, als zweites, genauer zu überlegen, was "afrikanische Werte und Gewohnheiten" überhaupt sind, und welchen Stellenwert wir ihnen hier an der Uni geben wollen. Dieses Thema hat mich in den letzten Tagen stark beschäftigt.

Bewusst wurde mir das Thema erstmals im Psychologiekurs, in dem ich munter von Carl Rogers und Paolo Freire, von Illich und Ruth Cohn erzähle, alles Psychologinnen, die den Menschen beibringen wollen, "ich" zu sagen und für ihre Bedürfnisse einzustehen. Es ist ein grosses Lob der autonomen Persönlichkeit, ein Lob, welches hier einiges Stirnrunzeln auslöst: Wie steht es mit dem Respekt vor älteren menschen und mit dem Respekt vor dem lehrer? Wie steht es mit der Einordnung in die Familie und dem Akzeptieren bewährter Traditionen. In meiner nachträglich erstellten Kurszusammenfassung habe ich geschrieben: "En discutant les différences entre la psychologie européaine et la psychologie Africaine nous avons trouvé, qu' une psychologie africaine mettrait plus d'importance sur la stabilité des familles et les traditions qui gouvernent la vie cottidienne. Elle critiquerait la façon des européains de favoriser l'individue visavi à la famille ou la société en général et leurs acceptation de l'idée du progrès continuel. Elle montrait les aspects problèmatique et déstructives de cette idée". Von diesem Punkt ausgehend haben wir in einer folgenden Sitzung über die problematischen Aspekte dessen gesprochen, was wir heute "Entwicklung" nennen. Dabei habe ich mich einmal mehr links überholt!

Ich höre mir beim Reden zu und denke, er hat recht! Wir müssten das, was er sagt, wirklich ernst nehmen. Wir müssten ..., doch tun wir es nicht. Auch er? Immerhin redet er davon, und reden kann zu Taten führen! Zum Beispiel zu einem Workshop zum Thema "welche Entwicklung meinen wir? Welche Entwicklung wollen wir?" - Der Psychologiekurs ist Ende kommender Woche vorüber.

wir haben 60 Stunden hinter uns gebracht, zumindest in der Theorie. Wir können also sagen: Das war's! Danach gibt es, so klärt mich Robert auf, normalerweise ein paar Tage Pause, dann kommt ein neuer Kurs. "Was für einer", frage ich. "Nun ja, das kommt eben darauf an. Wenn die Russen bis dann hier sind, dann werden sie dran kommen, wenn sie nicht hier sind, dannn müssen wir eben sehen ...".

Ich atme tief durch: Das ist die Uni, für die ich mich hier einsetze und für die ich in Europa werben will? Wirklich? Wir versuchen den Studierenden planvolles Handeln und Verantwortung beizubringen und gleichzeittig überlassen wir alle Planung dem lieben Gott. Wie sollen die Studierenden anfangen, eine Haltung zu dem zu entwickeln, was sie hier tun, wenn sie immer nur von einem zum nächsten Tag informiert werden ... Nein. So kann es nicht weitergehen! Kann es nicht? Kann es natürlich und wird es vielleicht auch! Immerhin, im aktuellen Fall kommt mir die Lücke im Betrieb gerade recht, denn das wäre genau der Moment für meinen Workshop.

Ich habe auf AfriqueAvenir und auf MultiWorld India einige Texte gefunden, die sich sehr kritisch mit der fortgesetzten Dominanz westlicher Wissenschaften befassen. Insbesondere Multiworld India ist in der Sache kompromisslos hart, aber auch in Afrika gibt's starke Töne: Kum'a Ndumbe III, Professor in Kamerun, warnt vor einem intellektuellen Genocid an afrikanischen Universitäten und plädiert für eine Rückkehr zu den eigenen Sprachen und einer Besinnung auf eigene künstlerische und wissenschaftliche Traditionen. Das ganze klingt schwächlich, solange unser Kopf von dem Gedröhn westlicher theorien voll ist. Doch wenn wir diese Theorien und unseren Respekt davor einmal beiseite schieben und Platz für anderes schaffen würden ... Platz für anderes? Für was? Für Ziellosigkeit und Schlendrian, getarnt als Gelassenheit und Heiterkeit ... Für ein wenig Singen und Tanzen, verkauft als afrikanische Urwüchsigkeit und Spontaneität? Ja, vielleicht. Solange die Bühne von Europa besetzt ist, lässt sich wenig über die "afrikanische n Werte" sagen, genau deshalb brauchen wir diese Pause!

Ich habe in den letzten zwei Wochen einen Text zu den pädagogischen Grundsätzen der UPP und zu ihrer praktischen Umsetzung geschrieben. Auch darin taucht die "afrikanische Identität" auf. Merkwürdig, dass ich hier derjenige zu sein scheine, dem dieses Thema am meisten auf den Nägeln brennt. Alain ist interessiert, zumindest theoretisch, doch die anderen? Wir werden sehen. Ich bin vor allem gespannt, was Flory dazu sagt. Ich gehe immer davon aus, dass meine Ideen ziemlich allgemein verbreitet sind, doch zumindest im Fall der landwirtschaftlichen Entwicklung ist dies offenbar nicht so. Flory war sehr interessiert und wusste, wie Robert und die meisten, mit denen ich darüber sprach, wenig. Möglicherweise ist es mit der Kritik am westlichen Wissenschaftsbetrieb und seiner welttbeherrschenden Stellung ähnlich. - Es ist interessant, hier zu sein und in der konkreten Arbeit auf Themen zu stossen, die mir bisher nur in theoretischer Form begegnet sind, aber mir doch wie alte Bekannte vorkommen. Was übrigens die Landwirtschaftssache angeht: Am 20. Februar, am Sonntag nach der Woche, in welcher dieses Tehma plötzlich so dringend war, gab's zufällig eine Diskussion auf Radio France International über Probleme und Möglichkeiten Landwirtschaftlicher Entwicklung in der dritten Welt. Der Rapporteur der UNO für den Hunger in der Welt, ein Frazose oder Belgier, dessen namen ich leider vergessen habe, vertrat sachkundig und engagiert genau die Position, die ich auch vertreten habe. Es war, wie wenn er mir gesagt hätte, du hast recht. Es ist genau so!

Uni oder Hilfsschule; Streik des Professor Martin; Probleme unserer Organisatoren und Wilis Sorgen

Heute früh lagen die Hoffnungen und Träume der letzten Tage wie tote Vögel auf dem Feld, das ich eben noch so zuversichtlich bestellt habe. Illusionen! Tagtäumereien - plötzlich aus dem Himmel gefallen! Ich habe kaum geschlafen. Die ganze Nacht gingen mir die Studenten und Studentinnen der UPP durch den Kopf.

Am vergangenen Montag (28. Februar) haben wir in der Psychologie den Abschlusstest geschrieben: 6 einfache Wissensfragen und 2 Fragen, bei denen man ein wenig erklären musste. Gestern Vormittag habe ich ihn zusammen mit Robert korrigiert. Das Ergebnis ist ernüchternd!

Zum einen hat sich bestätigt, was ich schon am Montag befürchtet, aber doch nicht recht geglaubt habe: Alle oder doch fast alle hatten das Skript des Kurses neben sich auf dem Tisch. Sie haben sich aber davon nicht nur inspirieren lassen, sondern sie haben seitenweise aus dem Text abgeschrieben, und dies, nachdem wir in der Woche zuvor zwei Nachmittage lang sozusagen Satz für Satz angeschaut haben, und ich ihnen gesagt habe, sie müssten sich wirklich somit diesen Sätzen befassen, dass sie genau wüssten, was hier drin steht. Dass sie mir danach Arbeiten abgeben, die zu 80% aus abgeschriebenen Sätzen bestehen, ist für mich unverständlich. Sind sie wirklich so naiv zu glauben, dass ich mit so etwas zufrieden bin? Natürlich habe ich dieses Desaster mit verursacht, indem ich nicht ausdrücklich gesagt habe, dass sie keine Unterlagen für den Test benützen dürfen; ich kam gar nicht auf die Idee, dies zu sagen, weil es mir so selbstverständlich vorkam. Doch weshalb hat niemand gefragt? Wollte mich niemand auf das versehentlich offen gelassene Gatter aufmerksam machen, um sich's mit seinen KameradInnen nicht zu verderben? Es muss doch einigen aufgefallen sein.

Durch das stereotype zitieren habe ich den Eindruck, dass kaum jemand wirklich begriffen hat, was wir in den letzten 5 Wochen gemacht haben. Für mich war es ein spannender Kurs, aber für 90% der Studierenden waren es offenbar bloss hoch über ihren Köpfen dahinziehende Wortwolken. Von den 20 oder 24 Studierenden, die den Test gemacht haben, habe ich bei drei oder vier eigene Worte gefunden ... Sonst nur Schablone, und bei einigen nicht einmal dies, sondern nur Leere.

Rückblickend ist klar, dass diese Gruppe mit meinem Unterrichtsstil massiv überfordert war. Ich habe darauf vertraut, dass sie eingreifen und nachfragen, wenn sie nicht verstehen, ohne dass ich dauernd dazu auffordern muss. Ich habe darauf vertraut, dass sie im Prinzip verstehen, was ich von ihnen erwarte, und dass sie zumindest zu 40 oder 50% an dem interessiert waren, was wir von Stunde zu Stunde diskutiert haben oder besser, was ICH von Stunde zu Stunde diskutiert habe. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich den Kurs eigentlich nur für mich gemacht habe, und er dem Grossteil der anderen am Arsch vorbeigegangen ist. Es ist nicht einmal das Bemühen zu spüren, verstehen zu wollen!

Man müsste also anders mit ihnen arbeiten. Aber auch wenn wir dies tun, wenn wir zB einen super guten akademischen Coach haben, der die Studierenden wirklich betreut, bleibt für mich die Frage, ob wir auf diesem tiefen Niveau arbeiten müssen und wollen. Kann man von kongolesischen Studenten und Studentinnen nicht mehrr erwarten, oder müssen wir klare Anforderungen formulieren. Sind sie durch die hiesige Schule so unreif geworden? Steht ihnen die französische Sprache im Weg? Ist es die Überforderung durch ihre oft schwierige Lebenssituation: einige von ihnen haben eigene Kindr; die meisten müssen arbeiten; viele kommen mit leerem Magen in die Kurse, weil sie nur abends richtig essen .... Aber nach dem, was ich mit robert gesehen habe, zweifle ich daran, ob einige von ihnen überhaupt lesen können. Ich denke deshalb daran, mit allen Studierenden einen Textverständnistest zu machen: Eine Seite Text lesen und schriftlich wiedergeben, damit wir wissen woran wir sind.Funktionaler Analphabetismus. Wäre ja eine interessante Entdeckung auf dieser Schulstufe. Ich habe auch überlegt, alle zu fragen, wie viel Zeit sie für den Test gebüffelt haben, und wer von ihnen, wie ich empfohlen hatte, einen schriftlichen Auszug meines Skripts angefertigt hat.

Letztlich glaube ich nicht an die "schwierigen Umsstände". Ich habe vielmehr das Gefühl, dass hier - aus Bequemlichkeit und Unfähigkeit - nicht wirklich gearbeitet wird, und dass die UPP, wenn wir nichts tun, allenfalls eine Art freundliche Hilfsschule, aber in keinem Fall eine ernst zu nehmende Universität ist. Das Gefühl hatte ich auch, als ich am Donnerstag, also vorgestern, spontan in einen Streik getreten bin, nachdem um 14:15 wieder einmal nur vier oder fünf Leute in unserem Kurslokal anwesend waren. Ich habe gesagt, dass ich von diesem Betrieb genug habe und von jetzt an erst mit dem Unterricht beginne, wenn mindestens zehn Leute anwesend seien. Danach ging ich, habe geduscht und mich sehr wohl und erleichtert gefühlt. Nach einer viertel Stunde kam Alain mit einem Gegenvorschlag der Studierenden zu mir. Ich lehnte ab, sagte aber, ich sei bereit, mit ihnen zu reden, um ihnen meinen Standpunkt noch einmal en Detail darzulegen. Alain ist froh, denn er ist jetzt im Klintsch.

Ich erkläre den versammelten StudentInnen, die mich mit grosser Freude und Friedensbereitschaft empfangen, dass Alain gekämpft habe wie ein Löwe, dass ich jedoch bei meinem Entscheid bleiben würde, da mich ihre Argumente nicht überzeugen. Als wir in der ersten oder zweiten UPP-Versammlung über Pünktlichkeit und Zuspätkommen sprachen, habe sich ja ganz klar gezeigt, dass zumindest 15 Leute problemlos um zwei Uhr hier sein können. Es gibt also keinen Grund, hier irgendwelche Milde walten zu lassen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie dieses problem in den Griff kriegen müssten, nicht ich. Die Diskussion war interessant. "Ja, aber wenn ein paar von uns pünktlich sind und wir dennoch erst um drei Uhr anfangen können, weil erst dann zehn Leute hier sind, dann werden doch die, die pünktlich sind bestraft." "Weshalb bestraft? Ihr müsst doch nicht einfach still dasitzen, wie hilflose Opfer. Ihr habt doch Telefon. Also ruft eure Kameraden an, macht ihnen Beine! Wehrt euch für eine UPP, in der wirklich gearbeitet wird!" "Ja aber wenn wir anrufen, nehmen sie das doch nicht ernst." "Warum nicht? Mir wäre es jedenfalls sehr peinlich, wenn ich wie ein Kinddergärtler zur uni gerufen werden müsste, und wenn das nicht wirkt, dann führt Busgeldr für alle ein, die unentschuldigt mehr als fünf Minuten zuspät kommen! Macht irgend etwas, irgend etwas! Es bringt nichts, darauf zu warten, dass andere, die "Administration" oder der liebe Gott das Problem lösen. Wenn das Interesse an der Arbeit hier so gering ist, weil der Psychologiekurs langweilig ist, dann kommt zu mir, macht den Mund auf, damit wir sehen, was wir ändern müssen, aber tut etwas. Es bringt nichts, den Konflikten auszuweichen ...".

Jetzt hebt Remi, den ich im Scherz immer unsern Advokaten nenne, zu einer seiner grossen Reden an: "Ja, Monsieur Martin. Es ist genau wie Sie sagen! Wir sehen hier die Symptomatik einer grossen Krankheit. Es ist die eigentliche kongolesische Krankheit, die wir hier erkennen, "la maladie congolaise", und wir sind entschlossen, sie zu bekämpfen, doch ist dieser Kampf ein längerer Prozess, und die Heilung wird Zeit brauchen." Ich lache. "O Monsieur Remi! Wie gut haben Sie gesprochen. Es ist in der Tat ein längerer Prozess, aber bekanntlich beginnt jede Reise mit dem ersten Schritt! Und hier ist der erste Schritt! Es gibt keinen Grund, ihn nicht zu tun. Es ist eine Frage des Willens. Wir haben lange genug über das Problem diskutiert. Jetzt gilt es zu handeln. Ihr seht das Problem, ihr beklagt euch alle, dass im Kongo nichts klappt, weil niemand seine Verpflichtungen ernst nimmt, und ihr wollt, dass sich das ändert. Also fangt hier an. Kämpft für eure Uni, sonst geht sie unter! Ich werde jedenfalls nicht für eine Uni werben, in der so wenig Interesse am Lernen besteht wie hier. ... Aber wenn ihr wollt, dann schiebt den Kampf noch eine Woche oder einen Monat hinaus. Es ist eure Sache. Ihr versteht: Ich arbeite gerne mit euch. Ich rede nicht so, weil ich euch nicht gerne habe. Im Gegenteil. Ich rede so, weil ich euch gerne habe, und weil ich weiss, dass ihr dieses Problem lösen könnt und lösen werdet! Ihr wollt es ja selbst! Euch entwickeln, weiterkommen, raus aus der Armut und aus der Resignation! Und ihr könnt es!"

Remi ist von meiner Unnachgiebigkeit offenbar ebenso überrascht wie ich selber. Er hat anlässlich der grossen Debatte über Pünktlichkeit und Zuspätkommen vor ein paar Wochen bereits zweimal von der Schaffung einer "moralischen Polizei" gesprochen. Jetzt kommt er darauf zurück. "Wir brauchen", sagt er, "um uns selbst zu helfen, diese - wie soll ich sie nennen? - diese "police morale", diese moralische Polizei." Er betont jedes Wort. Es geht ihm um die Sache; er ist engagiert! Doch es geht auch um das Drama, den Klang der Stimme, die rollenden rs und das Pathos in der Rede! "Wir müssen diese "Pollisse morralle" jetzt schaffen, um diese Krise zu bewältigen ...".

Remis Vorschlag kommt an. Jetzt haben wir also eine aus drei oder vier Männern und einer Frau bestehenden moralische Polizei, die sich um die Erziehung des Volkes kümmert. ich weiss nicht, ob sie viel helfen wird. ich weiss auch nicht, ob meine Unerbittlichkeit wirklich hilft. Wir werden wohl noch öfter miteinander reden müssen. Doch zumindest für einen Moment hat der Schock wohl etwas gebrachtg. Es ist zwar hart, die Studierenden sozusagen gegen sich selbst aufzubringen, doch wenn man sich hier an der UPP aus konfliktscheu weiter davor drückt, sich mit dem Thema Unpünktlichkeit auseinanderzusetzen, dann werden wir noch lange an der kongolesischen Krankheit leiden!

Das Gespräch mit den Studierenden war gut, aber wird die UPP wirklich auf die Beine kommen. Ich denke an die Ergebnisse der Psychologieprüfung und das niedrige Niveau der meisten Studierenden hier. Dass sie keine wandelnden Lexika und keine vielwissenden Intellektuellen sind stört mich nicht. Aber es ist so wenig persönliche Kraft, so wenig eigenes da! Sie ducken sich so ängstlich und werden so klein, sobald es um schulische Dinge geht! Man immitiert andere, übernimmt kluge Sätze und hofft damit durchzukommen. Kraft erlebe ich bei meinen Studierenden dann, wenn sie singen oder wenn sie miteinander streiten!

Meine Motivation, mich hier weitter einzusetzen, wechselt von Moment zu Moment. Ich zweifle immer wieder an dem, was wir hier tun. Die Vernunft sagt, forget it! Doch gibt es da den Widerspruchsgeist dessen, der trotz allem will. Im Grunde ist es einfach. ich habe die rettende Formel vor einigen Jahren bei Paul Geheeb gefunden. Wenn bei ihm nichts mehr ging erinnerte er sich und andere an die Goetheworte "in der Idee leben heisst das Unmögliche behandeln, als ob es möglich wäre!" Ich will versuchen, mich selbst öfter an diese Worte zu erinnern und den alltäglichen Schwierigkeiten weniger Gewicht zu geben. Ich will es versuchen, doch wie sagte Goethes Busenfreund Schiller, während er an einem seiner berühmten Äpfel roch: "Leicht beieinander wohnen die Gedanken. Doch hart im Raum stoßen sich die Sachen.":

Die kleinen Erlebnisse der letzten Tage sprechen Bände: Ich bitteRobert, das örtliche Elektrizitätswerk anzurufen, um sich zu erkundigen, wie es um unsere "Ligne Spéciale" steht. Er hat die Nummer nicht, will aber gleich nebenan fragen gehen. Der Herr nebenan ist leider nicht da, sodass sich die Sache herauszögert. Am späteren Nachmittag frage ich, ob denn niemand sonst diese Nummer habe. Ja, vielleicht ... Er wolle mal die Nachbarin des Nachbarn fragen ... Am nächsten Vormittag hat er den Anruf getätigt. Ich habe derweil angeregt, dass die UPP doch allle Telefonnummern, die für sie wichtig sein könnten, in einem Heft aufschreibt - möglichst alphabetisch -, damit man nicht immer einen Tag braucht, um irgendwen zu erreichen. O ja, doch doch, das ist wirklich eine gute Idee, sagt Robert, unser Administrator! Mit Eischa, der Sekretärin der Fondation Chirezi oder der UPP - so ganz klar ist ihre Aufgabe nicht -, habe ichebenfalls von der Nützlichkeit eines UPP Telefonbuches gesprochen. Sie ist zuerst gar nicht überzeugt, da sie wichtige Nummernimmer in ihrem Handy speichere. Ich erkläre ihr, dass man dann immer nach ihr suchen muss, wenn man eine bestimmte Nummer haben will, und wenn man eine andere braucht, muss man nach dem Pasteuer oder dem Robert suchen .., falls man überhaupt weiss,wer die Nummer gespeichert hat. Schliesslich versteht sie und ist begeistert: Ja, ein solches Heft werde sie gleich kaufen, und dann das ganze sauber aufbauen: zuerst alles mit A, dann alles mit B ... Sie erklärt mir voll Eifer, wie sie das mit dem Alphabet angehen wird. Eisha arbeitet vormittags hier und macht Nachmittags eine Ausbildung als Regionalplanerin. Sie ist ernsthaft interessiert, arbeitet auch in der Bibliotheksgruppe mit, aber bis jetzt denkt sie klein klein. Ob sie dazulernen wird?

Seit ich Hans grünes Licht für eine UPP-Sammelakktion in privatem Kreis gegeben habe, zweifle ich immer wieder an der Richtigkeit des Entscheides, denn bei Lichte betrachtet sieht die situation der UPP wesentlich schlechter aus, als ich es in diesem Moment wahrhaben wollte. Das Hauptproblem sind engagierte, tatkräftige und zielstrebige Menschen, die auch nach meinem Weggang weiter in der eingeschlagenen Richtung arbeiten. Das meint auch Wili, der plötzlich neben mir steht. Ich habe ihn heute Nachmittag in der Stadt getroffen. Er sei in der Bibliothek "Enfant d'Uvira" gewesen und habe sich danach erkundigt, wie diese Bibliothek zu ihren Büchern gekommen sei ... Wili ist der Chef der Bibliotheksgruppe. Er sieht mir bei meinem Versuch zu, meine Mails runterzuladen. Wir haben zwar seit einer Woche einen eigenen Internetanschluss und eigenen Strom - Flory hat eine Antenne und ein Solarpannel gekauft -, doch wie schon öfter ist der Internetzugang auch jetzt zu langsam, sodass meine Emails auf dem Server bleiben. Wili ist beunruhigt. Das mit dem Strom daure bereits schon so lange, und es sei doch so wichtig. Dann fragt er mich, "Martin, wenn du weg gehst, was wirst du dann für uns tun, ich meine, wenn du in der Schweiz bist? Weisst du, ich fürchte, dass hier alles stehen bleibt, sobald du fort bist, ddenn die Dinge hier bewegen sich nur, seit du angefangen hast, Druck zu machen." Wili ist besorgt. Wir reden eine Stunde. Ich frage ihn, ob er mit mir essen will. Er lehnt zuerst aab; er lacht. "Ich habe doch noch nie mit einem Weissen gegessen ...", doch dann entschliesst er sich, das Wagnis einzugehen. Während wir essen erzählt er, dass Flory noch nie so lange hier gewesen sei wie in den letzten Wochen. Auch Patric sei - als er noch hier war - eigentlich meist nur in Notfällen gekommen, weil er zuviele Kurse an anderen Unis gibt. "Nein, so richtig jeden Tag hier und für uns da war er eigentlich nicht, dabei brauchen wir dies doch ...".

Wili ist erst 20, hat im vergangenen Jahr die Schule abgeschlossen. Er, Susanne und Marie seien in derselben Lerngruppe gewesen. "C'était un maquis historique". "Maquis" nennen sie die Gruppen, die sich zur Vorbereitung des Schlussexamens der Ecole Secondaire an einem zum Lernen günstigen Ort zusammenfinden. Auch Massemo war in einer solchen Gruppe. Es scheint sich dabei um eine Art Tradition zu handeln, ein Ansatz von Schülerselbstorganisation und -selbsthilfe. Ich sage Wili, dass ich seine Sorgen verstehe, und dass es mir Mut mache, ihn so sprechen zu hören, denn es brauche hier menschen, die diese Dinge sehen und den Mut haben, sie anzusprechen und Druck zu machen. Die Leitung der UPP wolle ja aktive und engagierte Studierende, und wenn sie in einer Sache Druck machten, dannn sei das für die Leitung ja letztlich eine Hilfe. "Ja, und wie wirst du uns helfen, wenn du nicht mehr hier bist" fragt Willi noch einmal. Er will es wissen. ich sage ihm, wir müssten Mitte April darüber sprechen, denn ob und wie icch weiter mit der UPP arbeite hänge davon ab, ob sich bis Mitte April hier eine ruppe von Menschen - auch StudentInnen - zusammenfindet, die sich echt um die UPP kümmert. "Ja, die Verwaltung, das ist ein problem" sagt er. Dann fordert er mich auf, zu essen, denn vor lauter Reden ist mein Teller noch halb voll. Das könne ihnen nicht passieren, da sie meist zu zweit oder dritt aus einem Teller ässen. "Da bleibt der Teller nicht lange voll, und wenn du nicht isst, dann essen die andern und dein Magen bleibt leer."

Wili steht auf und verabschiedet sich. Er wolle meine Zeit nicht mehr länger in Anspruch nehmen. ich sei ja am Arbeiten. Ich danke ihm für seine Gesellschaft und frage ihn, wie es denn nun gewesen sei, das Essen mit einem Weissen. Er strahlt: "Eigentlich wie wenn ich mit meinem Vater oder meinem grossen Bruder esse. Gar nicht anders, ganz normal."

© März 2011, Martin Näf