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Seit über 4 Wochen versuche ich jetzt schon...

Seit über 4 Wochen versuche ich jetzt schon den Einstieg in dieses Kapitel - Haubinda, Lietz, Sezession etc. - zu finden, und es will und will nicht werden. meine Hilflosigkeit und Tappigkeit im Schreiben ist beunruhigend.

Das innere Wissen von der "Wahrheit" - von Anfang an domestiziert und verdrängt - regt sich! - Es regt sich als Lust am Querdenken, als Lust am provokativen Handeln, und es erregt mich als quirlige Energie zwischen meinen Lenden! Dieser innere Drang nach Leben bringt Unruhe und Spannung in meine brave, bürgerliche Welt, meine akademische Harmlosigkeit und meine wissenschaftliche Dienstbeflissenheit. Ich blicke mit Misstrauen auf meine zwanghafte Genauigkeit, meine wissenschaftliche Pedanterie. Ich will etwas wesentliches zum Ausdruck bringen, etwas was Bewegung schafft in der Welt! Ich hoffe noch immer, dass in der Geheeb-Biographie irgendwo der Stoff für wirkliche Aussagen, wirkliche Appelle und Anregungen steckt. Ich hoffe es! Nur - mein Leib protestiert gegen die Art, wie ich die Sache bis jetzt angegangen bin. Ich hätte die Biographie doch nicht als Dissertation machen sollen, hätte meinem ursprünglichen Plan folgen und sie ganz auf meine Weise als Roman, als echtes, wirkliches Buch schreiben sollen! Jetzt wird aller Geist in ihr dem Apparat zum Opfer gebracht, und ich, in der Enge dieser Kirche gross geworden, bin unfähig, der Schlachterei, der Zähmung meiner Selbst und meines "Gegenstandes" einhalt zu gebieten! Ich fange an, das vielschichtige, ungeordnete, unvollkommene Leben des Herrn Geheeb in eine anständige Form zu bringen. Ich Kästle ihn in die Begriffe, die wir vom Leben haben, gebe seinem Versuchen, seinem Herumstolpern einen schönen Sinn. Ich ordne das Chaos der Begegnung, der Wirkungen und Rückwirkungen, der Impulse und Verirrungen und mache "Geschichte" daraus, teile alles ein in "soziale Bewegungen", in "Reformansätze im Bereich der Pädagogik" und eine Reihe anderer Kästchen. Im Bemühen, die Welt in unsern wissenschaftlich-objektiven Griff zu kriegen machen wir sie verwaltbar. Wir müssen (wieder?) lernen, auch im "Wissenschaftsbetrieb "ich" zu sagen. Wir müssen dies lernen oder wieder lernen! Wir dürfen uns nicht zu blossen Maschinisten auf dem grossen Dampfer des Fortschritts degradieren lassen und dort, zehn Stockwerke unter der Wasseroberfläche, Kohlen in die glühenden Öfen schaufeln, acht, zehn, zwölf, sechzehn Stunden täglich, hoffend, dass wir einmal, als Lohn unserer Unterwerfung, aufsteigen und Kapitän werden oder doch Offizier, um dann selbst unsere Befehle brüllen oder uns in lässiger Pose - Telefonhörer in der Hand - auf unserem Stuhl zurückzulehnen und Zigarrenrauch zur Decke emporsteigen zu lassen!

 

Wenn ich mich umschaue an unseren Universitäten - den Hochburgen des freien Gedankenaustausches und der kritischen Reflexion! -, dann wird mir übel: Nichts oder fast nichts geschieht dort aus wirklichem Interesse, aus innerer Überzeugung oder um der "Hebung des Menschengeschlechts" willen! Man arbeitet zur Hebung des Ruhmes dieses oder jenes Instituts, dieses oder jenes Professors und diese wiederum arbeiten, um ihr Herrschaftsgebiet ausdehnen oder doch zumindest halten zu können. So wie man der religiösen Konkurenz einst "Ketzertum" vorgeworfen hat, wird einem heute "Unwissenschaftlichkeitd" vorgeworfen, wenn man die heilige Ruhe und den Verwaltungsfleiss der Gelehrten stört! - O Unruhe meiner Lenden, wo führst Du mich noch hin! "Werde, der du bist", hab Mut, deinen Weg zu gehen, hab Mut, zu sagen, was Du denkst und zu handeln, wie du es für richtig findest! O ihr gelehrten Damen und Herren! Ob dieser Satz nicht vielmehr Flugasche ist, ein glimmendes Stück Holz, welches das morsche Gebäude Eurer gelehrten Wohlanständigkeit und Sesselkleberei längst in Brand gesteckt hätte, wenn ihr nicht gelernt hättet, das glimmende Feuer mit Eurem scheinbar so überlegenen Wissen und Eurer Geringschätzung zu ersticken.

 

"Werde, der Du bist" ist wohl ebenso wenig eine Banalität wie die Aufforderung "liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" oder wie das von Geheeb ebenfalls andauernd zitierte Fichte-Wort: "Kein Mensch wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren! ...". Martin Näf, 1995 / 2019