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James Holman: Reise um die Welt, 1. Band, London 1834, Beginn von Kapitel 1

Die Leidenschaft zu reisen ist, so glaube ich, ein instinktiver Teil mancher Naturen! Wir haben Menschen gesehen, die ihre Vorhaben trotz grösster Hindrnisse verfolgten und– ohne Mittel und Freunde, ja sogar ohne die Kenntnis der Sprachen der Länder, durch die sie reisten – auf gefährlichen Wegen in entfernteste Gegenden vorstiessen, um, wie der Held in den arabischen Märchen, von jedem besuchten Ort eine Erinnerung mit sich zu nehmen.

Was mich angeht, war ich mir von frühester Jugend an der Existenz meines Wunsches bewusst, weit entfernte Gegenden zu erkunden, um die durch Klima, Sitten und Gesetze hervorgerufenen Unterschiede zwischen den Menschen kennenzulernen, und mit unermüdlichem Eifer die körperlichen und geistigen Merkmale zu erforschen, welche die Nationen der Welt von einander unterscheiden. Ich glaube, dass mir diese Richtung meiner Talente und Energien von einer gütigen Vorsehung gegeben wurden, um mich mit der Tatsache zu versöhnen, dass mir alle Freuden und Reize der sichtbaren Welt verschlossen sind. Die andauernde Beschäftigung des Intellekts und die ständige Erregung durch körperliche und geistige Aktivitäten tragen dazu bei, das Gefühl des Verlustes zu verringern, wenn nicht gar ganz zu überwinden, welches mich sonst bedrückt hätte, indem die Befriedigung dieser Leidenschaft kaum Raum für Niedergeschlagenheit lässt und mir unerschöpfliches Vergnügen bereitet.

Als ich meinen Dienst zur See begann fühlte ich einen unwiderstehlichen Drang, so viele Weltgegenden kennenzulernen, wie meine dienstlichen Verpflichtungen erlauben würden, und ich war entschlossen, mich nicht zufrieden zu geben ehe ich den ganzen Globus umrundet hätte. Aber im frühen Alter von 25, als diese Entschlüsse fest und die Begeisterung der Jugend stark und lebendig war, ereilte mich mein Schicksal. Es ist unmöglich meinen Gemütszustand angesichts des drohenden Verlustes meines Augenlichts und des Gedankens zu schildrn, dadurch für immer der Möglichkeit beraubt zu sein, mein geliebtes Projekt zu verwirklichen. Dabei war die Angst, unter welcher ich litt, solange meine medizinischen Freunde noch unsicher waren, schlimmer als das definitive Wissen über den Ausgang der Sache. Schliesslich verlangte ich von ihnen, offen zu sprechen und mir das Schlimmste zu sagen, da dieses leichter zu ertragen sei als die quälenden Zweifel. Statt es zu vergrössern, verringerte ihre Antwort mein Leiden. Ich empfand Erleichterung darin, nicht mehr länger durch falsche Hoffnungen getäuscht zu werden, und die Gewissheit, dass es für mich keine Aussicht auf Heilung gab, bestimmte mich in einem meiner neuen Lage entsprechenden Geschäft Arbeit und Trost zu suchen.

Damals war meine Gesundheit so angeschlagen, und meine Nerven waren wegen der vorangegangenen Ängste so geschwächt, dass ich mir nicht gestatten durfte davon zu träumen, jemals wieder alleine Reisen ausserhalb meines Vaterlandes zu unternehmen. Aber die Rükckkehr meiner Energie und Spannkraft und die Konzentration all meiner Gedanken auf dieses eine Ziel brachten meine alte Leidenschaft schrittweise zurück, bis sie schliesslich wieder so stark wie eh und je war; und nachdem meine alten Gefühle auf diese Weise zu neuem Leben erwacht waren, brach ich, blind und ohne Begleitung auf meine neue, gefährliche Reise auf, und ich kann nicht auf die erlebten Szenen, die vielfältigen Umstände meiner Reisen und die eigentümlichen Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, zurückschauen ohne ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für die Gnade des Allmächtigen, der mir die Kraft gab, das grösste menschliche Übel durch die Pflege dessen zu überwinden, was für mich die grösste Freude der Menschen ist, und das Fehlen meines Sehsinnes durch zahllose Gegenstände geistiger Befriedigung zu ersetzen.

Denjenigen, die sich fragen, welches Vergnügen mir der belebende Geist des Reisens angesichts meiner Einschränkungen machen könne, möchte ich mit den Worten des Dichters antworten:

"Wer nicht kennt die Kraft, die uns're Seel' entfacht,
jeden Nerv erregt und durch den ganzen Körper bebt,
Dessen ausgeglich'nes Leben ist wie ein sterbend Feuer,
nicht genährt durch Wünsche, nicht entfacht durch heisse Lust!

Oder ich könnte, vielleicht angemessener, fragen: Wer kann das Leben ertragen ohne ein Ziel, ohne die Verfolgung irgend eines Zweckes, dessen Erreichung seine moralische Kraft herausfordert?

Ich kann ohne einen Zweifel sagen, dass die Anstrengung des Reisens mir in jeder Weise gut getan hat, und ich weiss nicht, was geschehen wäre, wenn die Freude, mit der ich die Reise erwartet habe, enttäuscht worden wäre, oder wie sehr sich meine Gesundheit ohne ihren belebenden Einfluss verschlechtert hätte.

Ich werde andauernd gefragt - und ich beantworte die Frage hier am besten ein für alle Mal! -, was hat jemand, der nichts sieht, vom Reisen? Ich antworte: Sieht jeder Reisende all die Dinge, die er beschreibt, und ist nicht jeder Reisende genötigt sich bei einem grossen Teil der Informationen, die er sammelt, auf Dritte zu verlassen? Nicht einmal Humboldt bildet hier eine Ausnahme!

Es stimmt: Die Schönheiten der Natur sind mir verschlossen, und Kunstwerke sind für mich blosse Umrisse des Schönen, nur einem Sinn erreichbar.

Aber vielleicht verstärkt gerade dieser Umstand die Neugier, die zu einer genaueren Untersuchung jeder Einzelheit zwingt als sie einem Reisenden von Nöten scheint, der sich nach einem oberflächlichen Blick mit den Eindrücken zufrieden gibt, die ihm seine Augen vermitteln. Dieses Organes beraubt bin ich gezwungen, mich zur Erlangung von Informationen einer rigideren und weniger zweifelhaften Methode zu bedienen, und analytisch zu forschen – durch eine Reihe geduldiger Untersuchungen, Vorschläge und Schlussfolgerungen, die andere Reisende auf den ersten Blick verwerfen, sodass ich – befreit von der Gefahr durch das Aussehen getäuscht zu werden – weniger dazu neige, vorschnelle und falsche Schlüsse zu ziehen.

Ich glaube, dass ich – ungeachtet meiner Sehnsucht zu sehen –während meiner Reisen ebenso viele interessante Orte besuche wie die Mehrheit meiner Zeitgenossen, und indem ich mir die Dinge vor Ort beschreiben lasse, kann ich mir, so denke ich, eine ebenso genaue Vorstellung von ihnen machen, wie ich es mit meinen eigenen Augen könnte. Um die Richtigkeit dieser Feststellung zu bestätigen, könnte ich viele lebende Zeugen meiner unermüdlichen Nachforschungen und meines unstillbaren Durstes nach Informationen nennen, Dies ist tatsächlich das Geheimnis des Vergnügens, welches mir das Reisen bereitet, indem es mir eine dauernde Quelle geistiger Anregungen gewährt, und mich körperlich ständig so herausfordert, dass ich weit mehr Anstrengungen ertrage, als irgend jemand mir zutrauen würde.

Man fragt mich häufig, wie ich meine Notizen mache. Nun, es ist ganz einfach: Ich habe eine Art groben Tagebuchs, welches ich stets nachführe, wenn sich eine Gelegenheit bietet; nicht jeden Tag, denn ich bin oft einige Tage, ja manchmal ganze zwei Wochen im Verzug, aber ich erinnere mich stets so lebhaft an die täglichen Geschehnisse, die ich festhalten will, dass mir kein Vorfall entgeht. Ich mache mir auch Notizen zu besonderen Themen und sammle Beschreibungen von interessanten Objekten, und wenn ich keinen Freund als meinen Schreiber zur Verfügung habe, so habe ich einen besonderen Schreibapparat, den ich allerdings nur selten benütze, da sein Gebrauch für mich wesentlich mühsamer ist als das Diktieren. Die Notizen sind grobe Stichworte, die ich nach meiner Rückkehr nach Old England dann in Ruhe weiter ausführe.

Die Erfindung des Apparates, den ich erwähnt habe, ist für jene, die von Blindheit betroffen sind, von unschätzbarem Wert. Sie eröffnet nicht nur eine angenehme Quelle der Unterhaltung und Beschäftigung in Stunden der Einsamkeit und der Zurückgezogenheit; sie bietet auch eine Möglichkeit, unsere geheimen Gedanken ohne Vermittlung Dritter einem Freund anzuvertrauen, sodass die Verbundenheit und Vertrautheit eines privaten Briefwechsels, durch ein natürliches Unglück unmöglich geworden, für uns dank eines künstlichen Hilfsmittels bewahrt wird. Angesichts dieses Verfahrens wünschen wir vielleicht auch, unser Briefpartner möchte unsere Anfrage in einer Weise beantworten, die für diejenigen, welchen die Antwort unterbreitet wird, völlig unleserlich wäre.

Dieser Apparat mit dem Namen "Nocto via Polygraph," von Herr Wedgwood, dem Erfinder, ist nicht nur für Blinde nützlich; er kann auch allen zugänglich gemacht werden, die unter einer Erkrankung ihrer Augen leiden, denn wenn er Ihnen auch nicht erlaubt, ihre Gedanken mit derselben Leichtigkeit auf das Papier zu bringen wie mit Feder und Tinte, so ermöglicht er es Ihnen doch, klar und deutlich zu schreiben, und dabei die befriedigende Gewissheit zu haben, dass Sie kein Risiko laufen, Ihr Sehvermögen zu schädigen. Es ist lediglich eine Frage der Gerechtigkeit, diejenigen unter meinen Lesern, die sich für dieses Thema interessieren, wegen weiterer Einzelheiten über seine verschiedenen Erfindungen für Blinde an Herrn Wedgwood zu verweisen!

Aufgrund meiner besonderen Lage und des allgemeinen Interesses, auf welches dieses Thema, nach der Häufigkeit der mir gestellten Fragen zu urteilen, zu stossen scheint, war es nötig, diese persönlichen Erklärungen, die ich hiermit abschliessen will, abzugeben.

Holman, James: VOYAGE ROUND THE WORLD, in four volumes, volume 1 (Including Travels in Africa, Asia, Australasia, America, etc. etc. from 1827 to 1832). London 1834, beginning of chapter 1

Übersetzung Martin Näf

Gefunden in Projekt Gutenberg