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Ob wir es wollen oder nicht ... Sokratext und Aristofel im Gespräch über Computer, Internet und das ganze Zeug

Ich habe den Text vor 20 Jahren geschrieben und dann "vergessen". Jetzt kommt er mir aber so aktuell vor, dass ich beschlossen habe, ihn trotzdem ins Netz zu stellen. Mich selber beunruhigt der Text und was dahinter rumort.

Aristofel: "Sokratext, mein Lieber! Was sitzt Du so betrübt auf diesem Stein und grübelst so grimmig in Deiner gehaltvollen Nase? Musst Du etwa wieder einen Artikel schreiben? Meintest Du wieder einmal, dass die Welt ohne Deine Weisheiten nicht auskommen könne, oder wartest Du etwa auf Dentifix, um Dir von ihm Deine letzten Zähne ziehen zu lassen?"

Sokratext: "Aristopel, Du zierde der Jünglinge, die Freude meiner lahmen Gebeine, Du Balsamico meiner ermatteten Seele! Wie trostreich klingt Deine Stimme mir durch mein Dunkel! Ich bin in der Tat einmal mehr meiner Eitelkeit und den Ueberredungskünsten einer charmanten Redaktörin erlegen und muss nun einen Artikel schreiben über "Neue Medien aus der Sicht eines behinderten Users"!"

Aristofel: "O Sokratext! Zu welchen Dummheiten hast Du eitler Tor Dich wieder verleiten lassen! Doch wahrlich! Hundertfach hast Du, beim Barte des Zeus, die Qualen, die Du jetzt leidest, verdient! denn hast Du Deine Freunde nicht seit Jahren immer wieder sträflich vernachlässigt, um dieses oder jenes Software-Problem zu lösen, und hast Du nicht auch mich mehr als einmal im Stich gelassen, weil Du im Netz irgendeinem immaginären Glücke nachjagtest! Nein, nein, mein Guter. Glaube nur nicht, dass ich Dir auch nur ein Grämmchen meines sonst so gerne gewährten Mitleides schenke! Die verdammten "neuen Medien", diese Killer allen normalen sozialen Lebens. All meine Freunde gehen mit geschwollener Brust umher, zücken ihre lächerlichen Elektroterminmanager und reden andauernd nur noch von ihren 486er Prozessoren und den Homepages, auf denen Sie sich während der letzten Nacht wieder herumgetrieben haben, anstatt sich mit mir über den Tod und die Sterblichkeit des Menschen, über das gute Leben und das Wesen der Liebe zu unterhalten oder ganz einfach wieder einmal saufen zu gehen! Nein, nein. Es geschieht Dir recht. Büsse nur für Deine Sünden!"

Sokratext: "O mein geliebtester Freund, Du beschimpfst mich zu Unrecht, denn leide ich selbst nicht am meisten unter der Tyrannei meines PC's? Habe ich nicht tausendmal versucht, mich aus seinen Klauen zu befreien! Habe ich nicht immer und immer wieder geflucht über die unzähligen Stunden, die wir - erwachsene Menschen! - mit diesen Kisten vergeuden, weil wir den Briefkopf noch schöner gestalten oder das Emailprogramm wieder einmal abgestürzt ist! Und bin ich nicht bestraft genug, wenn ich zum tausendsten Male erschöpft und innerlich leer zurückkehre von einem nächtlichen Ausflug in die unendlichen Wüsten des "weltweiten Netzes", weil ich einmal mehr seinen süsslichen Lockungen und falschen Versprechen nicht zu widerstehen vermochte! Und dann, mein Geliebtester! Habe ich nicht eben dies in flammenden Worten niedergeschrieben! Habe ich die "neuen Medien" nicht genauso kritisiert, wie Du es eben im Ansatze tatest! Habe ich mich nicht in die Bresche geworfen für eine "Rückkehr zu einer Welt aus Fleisch und Blut", eine "Rückkehr zur Einfachheit" ... Computer, Internet und der ganze Zauber, so schrieb ich, seien nichts als Opium für das gefrustete Volk -, nein, "Opium" und "gefrustet" schrieb ich nicht, ich brauchte andere Worte, doch kritisch war mein Text und präzise, so fand ich zumindest. Und dann ..."

Aristofel: "Und dann? Hat die Zeitung den Text nicht genommen? Hat Macroschrott Dir einen Prozess an den Hals gehängt oder haben sie dir wortgewaltigem Staubaufwirbler einen Werbevertrag offeriert?"

Sokratext: "Nichts dergleichen, Du Quälgeist meiner tiefbedrückten Seele! Brrrr - chhhh - pipipipiiii ... brrr hat's gemacht und - weg war der Text! Da half keiner der so leidvoll erlernten Tricks -, kein "undelete" und kein "Such bus bus, such". Mein schöner Text war weg! Und ich war nicht besoffen. Ehrlich! Und falsch hab ich auch nichts gemacht!"

Aristofel: "Nun denn, so danke den Göttern, dass sie den Text Dir entrissen und geniesse die wiedergewonnene Freiheit!"

Sokratext: "Freiheit? Da spricht die Stimme der Jugend, der das Wort Pflicht noch ein fernes Wölkchen am blauen Himmel des Lebens ist! Ich hab den Artikel versprochen und die darin enthalt'nen Gedanken ..."

Aristofel: "Vergiss sie, mein Alter! Mit ohnmächt'gen Worten willst Du Entwicklungen bremsen, die sich nicht bremsen lassen. Du glaubst noch immer an die "Vernunft des Menschen"! Dabei pfeifen es die Spatzen doch schon längst unüberhörbar von den Fenstersimsen aller Chefettagen: Das Geld regiert die Welt! Und das, was wir so hochtrabend unsere "Vernunft" nennen flattert längst wie eine bunte, aber nutzlose Fane im Winde des Kapitalismus! Deshalb, Sokratext: Vergiss es und komm mit mir zum Fluss, dem ewig rauschenden. Lass uns noch einmal von Liebe sprechen oder von Euripides, diesem Trottel, oderlass uns still dem Gemurmel des Wassers lauschen."

Sokratext: "Nein, mein Junge! Wir können und dürfen die Augen nicht verschliessen vor der gigantichen Umgestaltung unserer Welt, unserer sozialen Beziehungen, unserer Denk- und Kommunikationsformen, unseren Lebensstilen und -zielen, welche durch den Computer und die "neuen Medien" in noch nie dagewesenem Tempo vorangetrieben werden! Lass uns nachdenken über die Formen und die Auswirkungen dieser Umgestaltung! Lass uns nachdenken über die ökonomischen Interessen, welche ..."

Aristofel: "Ich geh zum Fluss. Mit diesen Phrasen vertreibst Du Dir nur noch die letzten ZuhörerInnen! Hör auf, die Welt zu retten! Hör auf, den Menschen ihr Spielzeug wegzunehmen: Wenn sie ihren monotonen Alltag in der bunten Welt des Internet für ein paar Stunden vergessen wollen -, wenn sie sich mit ihren neuen PC's für ein paar Wochen über die Fragwürdigkeit ihrer Arbeit hinwegtäuschen können -, wenn sie ihr stets gefährdetes Selbstwertgefühl durch den Kauf eines noch schnelleren, noch kleineren, noch potenteren Notebooks für ein paar Tage wieder etwas aufpolieren können - was willst Du es hindern! Gönne den Armen die Freude, den Trost! Im übrigen: Selbst wenn sie - aus Respekt vor Deiner Person oder aus echter Betroffenheit - auf Dich hörten: Wir sind längst nicht mehr frei, "nein" zu diesen Dingen zu sagen! Ob wir sie riefen oder nicht -, wir werden die Geister nicht mehr los, auch wenn Du Tag und Nacht dagegen redest! Unsere Wirtschaftsführer und das zahllose Heer der grossen und kleinen Schmarotzer und Profitöre werden sich ihr Geschäft nicht verderben lassen, denn ein Geschäft ist es wahrlich! Drum, mein Guter, lass uns schwimmen gehen. Der Tag ist jung und unsere Leiber wollen leben!"

Sokratext: "So bitter! So zynisch! O mein geliebter Freund, wie schmerzt mich all dies!"

Aristofel: "Ja, mein Alter. Wie soll ich denn nicht bitter sein und zynisch! Was sehe ich denn um mich her seit Du mich zu sehen gelehrt hast! Wir erkennen die Perversionen und die Sackgassen des modernen Lebens, wir sehen deutlich, wohin uns unser ständiger Kampf um noch schnellere Autos, noch schnellere Flugzeuge, noch bequemere Eisenbahnen, noch effizientere Verwaltungsapparate, noch potentere Raketen und noch schönere Warenhäuser und Einkaufszentren führt - wir erkennen es: Wir sehen mit Schrecken, wie wir dabei sind, unseren Planeten in eine riesige Müllhalde zu verwandeln, doch anstatt unsere Augen zu öffnen und aus diesem Teufelskreis auszusteigen, klammern wir uns immer ängstlicher an unsere "Arbeitsplätze" und opfern dem Megagott Wirtschaft immer bereitwilliger was uns noch geblieben ist an menschlichen und natürlichen Ressursen, an individuellen Freiheiten, an Visionen und nicht kommerziellen Freuden! Viele von uns spüren genau, dass die Maschine sich verselbstständigt hat, doch sind wir selbst bereits so sehr zum Teil dieses Gewebes von Empfindungen und Scheingedanken, difusen Aengsten und Hoffnungen, scheinbaren Sachzwängen und Abhängigkeiten geworden, dass wir nicht mehr fähig sind, so zu handeln, wie wir handeln sollten. Wir kommen aus unseren Süchten nicht mehr heraus; zufrieden ihre Hände reibend tun die Dealer in kalter Berechnung alles, dass wir uns immer mehr verstricken in diesem Gewebe und immer hilfloser werden in unserer Sucht. Sie engagieren Fachleute aller Art - Texter und GraphikerInnen, WerbestrategInnen und "Marketing Event Manager" - um uns ihre Ware aufzuschwatzen. Und wenn wir uns auf diese Weise nicht verführen lassen, dann drohen sie mit furchtbaren Katastrophen, die uns ereilen werden, wenn wir uns ihrem Fortschritt verschliessen:Ohne Computer und all die anderen Spitzentechnologien würden wir, so sagen sie, im Kampf gegen die Amis und die Japaner und die übrige Welt sehr bald erliegen, würden herabsinken zu einem Volk von BettlerInnen, würden als Cloputzer in China oder Indien enden, schutzlos preisgegeben den Siegern um uns herum! Und auch als Einzelner überlebe nur, wer dafür sorge, dass er oder sie "den Anschluss" an diese "Entwickungen" nicht verpasse! Und wir - von Kindheit an zu sehr daran gewöhnt, eher einer fremden Autorität als der Stimme unseres eigenen Herzens, unseres eigenen Verstandes zu folgen - tun mit Schlotternden Knien, was man uns aufträgt! Ach Sokratext!... Lass uns zum Fluss gehen, bitte! Ich will es einfach nicht wissen, es ist alles so schrecklich !"

Sokratext: "Und Du siehst, mein Junge, die "neuen Medien" als Teil dieses Infernos?"

Aristofel: "Aber ja doch, natürlich: Alle Perversionen können wir jetzt mit hundertfacher Energie vorantreiben: Noch präzisere Raketen, noch mehr nutzloser Forschungsoutput, unter dem unsere Gedanken, unsere Herzen, unsere Seelen ersticken! Antworten auf nie gestellte Fragen! Wissen von Dingen, die uns bisher nie interessierten - wir brauchen es nicht! - Wir brauchen wirkliche Zärtlichkeit, keinen Online Sex und keine Email Flirts! Wir brauchen wirkliche Nachbarn, bei denen wir anklopfen können, wenn wir zu wenig Milch haben oder wenn wir uns einsam fühlen; wir brauchen keine Sofortverbindungen mit der ganzen Welt -, mit unseren Freunden in New Mexico und unseren Geschäftspartnern in Singapore! Wir brauchen keine effizientere Organisation des Massentourismus und keine Medizin die "noch mehr" kann! Wir brauchen einen gesunden Planeten, keine auf dauerndem Wachstum basierende Wirtschaft, weniger Flugzeuge in der Luft und mehr Toleranz und Gelassenheit auf der Erde gegenüber Krankheit und Tod, Schmerzen und den vielen Spielarten des menschlichen Seins! Wir brauchen nicht noch mehr Unterhaltung, nicht noch mehr "wertvolle" Informationen, nicht noch mehr Belehrung, sondern mehr Raum für eigenes Denken, für eigene Phantasien und eigene Kreativität! Wir brauchen nicht 114 verschiedene Schriften in unsern Computern, sondern ausreichend Musse und Zeit, um Briefe zu schreiben! Wir brauchen... Ach Sokratext! Woher wüsste ich all dies, wenn nicht von Dir, doch ... was hilft es! Man schwatzt uns diese Dinge auf, wie man uns alles andere aufgeschwatzt hat, und wenn wir nicht freiwillig zugreifen und mitmachen, dann werden wir von hinten und vorne so bearbeitet, bis wir schliesslich alle wollen, was wir zu wollen haben! Da, wo hohe Profite winken - und im Umfeld der "neuen Medien" winken sehr hohe Profite! -, da scheuen die UnternehmerInnen keine Kosten. Während wir unsere nationalen Demokratieübungen abhalten, arbeiten die internationalen Konzerne systematisch an der weiteren Eroberung unserer Köpfe und Herzen. Und dann, Sokratext, willstDu über all dies aus der Sicht von "Behinderten" sprechen - als ob die "Behinderten", die Hascherl der Nation, hier in einem anderen Boot sitzen! Es geht um Vergewaltigung und Totschlag -, es geht um uns alle! Du wirst doch nicht, nur um die flache Neugier der LeserInnen zu stillen, brav aufzählen, dass auch Du, obwohl Du "blind" seiest - ach bitte, Sokratext, sei nicht Blind, schau den Dingen ins Auge! -,dass also auch Du mit Hilfe Deiner Sprachausgabe auf dem Netz herumsurfen könnest! Du wirst sie doch nicht in trügerische Ruhe einlullen wollen, indem Du ihnen erzählst, wie Du es genossen habest und noch geniesst, in irgendwelchen Bibliothekskatalogen der Welt zu blättern - ganz allein und erstmals ohne einen Vorleser oder eine Vorleserin! Du wirst doch nicht den Clown machen für die Damen und Herren von Microspot und Macrosoft! Wenn Du dieser Sucht erliegst, Sokratext, so geniesse sie! Du bist alt und Du arbeitest noch immer nach Kräften an der Verbesserung der Menschheit -, doch blase nicht auch Du noch in das Horn der flachen Lüste und Begehrlichkeiten, der billigen Illusionen und der falschen Versprechungen! Einen Scanner statt einer Vorleserin -, herrliche Naturbilder aus dem Netz anstelle der Wälder hinter dem Haus -, eine Schachpartie mit dem PC, statt mit dem Freunde -, den Bildschirm als Gegenüber anstelle eines netten Verkäufers ... Sokratext, prüfe genau, ob und wieviel von diesem Fortschritt Du willst! Denke an das, was Du warst und tief in Dir drin noch immer bist!"

Sokratext: "Vielleicht, mein treuester Aristofel -, vielleicht hat tatsächlich ein gütiger Gott dafür gesorgt, dass der vor zwei Tagen so mühsam geschriebene Text meinem zickigen Bildschirmleseprogramm zum Opfer gefallen ist, sodass heute ein Neuer entstand. Beinahe hätte ich mich in der Tat zum Clown gemacht, um andern zu gefallen! Lass uns an den Fluss gehen, mein tapferer Schüler, und dann lass uns, wie Du es wolltest, über die Zukunft der Menschen und über die Liebe sprechen!"

© Martin Näf, 1997, 2017