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Tatort Spickstift! Symptom der allgemeinen Verwirrung

Mogeln scheint zur Schule zu gehören wie die Pausenglocke oder die Wandtafel. Dabei bleibt natürlich auch hier die Zeit nicht stehen. Die Methoden des Mogelns ändern sich und mit ihnen ändern sich die Techniken der Überwachung. Es ist eine Art Wettrüsten zwischen SchülerInnen und LehrerInnen, welches in letzter Zeit durch das Internet und das Handy ganz neue Dimensionen erhalten hat. Dem gegenüber wirkt der im Sommer 2005 von einer Schweizer Firma auf den Markt gebrachte Spickstift geradezu heimelig und regelrecht altmodisch. Als Einstieg ins Thema des Mogelns und Betrügens ist er jedoch ein durchaus würdiger Gegenstand.

Der Spickstift, „ein scheinbar normaler Kugelschreiber, der mit unsichtbarer Tinte auf Papier, Haut, Textilien etc. schreibt, an seinem hinteren Ende: ein kleines UV-Lämpchen, das das Geschriebene sichtbar macht", ist sozusagen das Schweizer Taschenmesser im schulischen Überlebenskampf. Er ist verhältnismässig billig und klein, läst sich leicht überall hin mittragen und ist äusserlich unauffällig. Notizen, die man sich mit dem Spickstift auf seinen Unterarm, seinen Masstab oder sonst wo hinschreibt, sind für die Aussenwelt unsichtbar. Richtig eingesetzt kann der Spickstift also entscheidend zum positiven Verlauf einer Karriere beitragen!

Betrug? Unehrlichkeit? Nana, ist doch bloss „Der neueste Trend bei coolen Kids", wie die Firma Hitzel Spielwaren, die die neue Wunderwaffe aus der Schweiz in Deutschland und Österreich vertreibt, uns belehrt. Zu enge moralische Masstäbe waren noch nie gut für's Geschäft. Für den „Lehrerfreund", ein Internetforum rund um die Schule, auf welchem das umstrittene Ding im Herbst 2005 vorgestellt wurde, ist die Sache begreiflicherweise nicht ganz so einfach.

Mogeln und Schummeln, wozu auch das Spicken oder Abschreiben zu zählen ist, sei, „gemessen an sonstigen Vorgängen in der Welt" zwar ein „minderschweres Vergehen", müsse „aus pädagogischen Gründen" aber doch geahndet werden, so meint der Lehrerfreund zu der peinlichen Affäre. Er befindet sich in dieser Angelegenheit offenbar in einer Zwickmühle, denn würde er allzu moralisch daherkommen, bestünde die Gefahr, dass er sein jugendliches Publikum vergraulen würde. Würde er sich jedoch allzu enthusiastisch über den neuen Stift und seine Möglichkeiten äussern, so würde er sich nicht nur den Vorwurf eines amoralischen Verführers der Jugend einhandeln, er geriete möglicherweise sogar in den Verdacht, an dem unsittlichen Geschäft zu verdienen, denn das kostenlose Angebot des „Lehrerfreundes" wird, wie wir seiner Webseite entnehmen können, durch Werbeeinnahmen finanziert. Der Lehrerfreund gibt sich deshalb zurückhaltend und stellt in pseudowissenschaftlicher Manier fest: „Wer nichts lernt, sondern nur abschreibt, wird wahrscheinlich auf seinem weiteren Lebensweg weniger Optionen wahrnehmen können als jemand, für den Spicken ein notwendiges Übel ist." Zu deutsch: Wenn du spicken musst, dann spicke. Offiziell aber gib dich moralisch und ehrlich, und solltest du je bei einer Betrügerei erwischt werden, dann beteuere deine Unschuld und rede dich auf eine besondere Notsituation heraus. - Dass die Herstellerfirma des Spickstifts das Spicken als vernünftige Strategie im Umgang mit der Realität und damit geradezu als ein Zeichen von Intelligenz darstellt, das geht dem pragmatischen Lehrerfreund eindeutig zu weit. Diese Marketingstrategie empfindet er als „moralisch infiltrant" und „ethisch nicht tolerierbar". Und er hat recht, denn diese Sicht der Dinge fördert den Zynismus der Jugend und untergräbt ihre Schulgläubigkeit in gefährlicher Weise. Damit gerät jedoch auch unsere Gesellschaft in Gefahr, denn wenn das Misstrauen des Menschen erst einmal erwacht wird, lässt es sich nicht so leicht auf ein Gebiet beschränken! Wer deshalb, so das Fazit des „Lehrerfreundes" einen solchen Stift brauche – natürlich nur „als notwendiges Übel"! – solle deshalb am besten auf ein Konkurrenzprodukt ausweichen. Diese seien, ein zusätzliches Plus, erst noch wesentlich billiger als der überteuerte Spickstift. Auf die Gefahr hin, sich bei den moralisch weniger flexiblen VertreterInnen des Bildungswesens unbeliebt zu machen nennt der Lehrerfreund auch gleich den „Simba Secret Notes" für 2,99€ (mit drei Ersatzbatterien!) oder den "UV-Kugelschreiber" von PlayDeluxe für 1,99€ als mögliche Alternativen -, seine Webseite lebt, wie gesagt, von Werbeeinnahmen.

Die Ausführungen des „Lehrerfreundes" zum Spickstift lösen auf der Webseite eine heftige Debatte darüber aus, ob Mogeln und Schummeln eher ein Zeichen praktischer Intelligenz oder ein Hinweis auf moralische Minderwertigkeit sei, und ob man sich als Pädagoge oder Pädagogin überhaupt auf solche Themen einlassen solle. Ich selbst schwanke zwischen Heiterkeit und Ärger, denn in diesem Beispiel finden wir beinahe alle Widersprüche, an denen unsere Schule und die sie bejahende Mainstreamgesellschaft heute krankt, und wir finden genau die Art von wortreicher Wurstigkeit, mit der wir einer ernsthaften Erörterung dieser Widersprüche aus dem Wege gehen. Statt uns mit den verschiedenen Erscheinungsformen des Betrugs und mit seiner weiten Verbreitung in allen Bereichen unserer Gesellschaft zu befassen, behandeln wir ihn als ein etwas peinliches, letztlich jedoch nicht besonders wichtiges Ausnahmephänomen. Dabei könnten wir unsere Gesellschaft ebenso gut als Gesellschaft von BetrügerInnen und den Betrug selbst als eines der zentralen Mittel bezeichnen, welches uns das Leben und Überleben in einer auf Konkurrenz und Einzelkämpfertum, Versagensangst und Karriereneid beruhenden Gesellschaft ermöglicht.

In einer von Leistungsdruck, Konkurrenzangst, Karriereneid und Einzelkämpfertum beherrschten Bildungslandschaft und Arbeitswelt ist Betrug jedenfalls auch ein legitimes Mittel im allgemeinen Überlebenskampf. Und Betrug in Abstufungen und Variationen kommt überall vor!

. Ich weiss es auch nicht. Ich weiss nur, dass das Wettrüsten zwischen LehrerInnen und SchülerInnen weitergehen wird, solange wir uns nicht zu einem umfassenden Friedensabkommen durchringen können. Wie ein solches Friedensabkommen zwischen SchülerInnen und LehrerInnen aussehen könnte oder müsste? Ich weiss es nicht, ich denke allerdings, dass es ohne grosse Konzessionen der Erwachsenenwelt an die jungen Menschen nicht gehen wird. Nach Inkrafttreten des Abkommens könnten wir auch den Spickstift ins Museum bringen, wo er helfen würde, die im Zuge der Industrialisierung eingeführte Zwangsbeschulung der westlichen Jugend und ihren lange dauernden Befreiungskampf zu dokumentieren.