Fümfter Brief: Blätterrauschen, Ruhe, Schreiben, Klavierspielen!
Ojai, Kalifornien, 9. März 1997
Liebe Denise,
Ich habe mich vor einer Woche nach Ojai zurückgezogen, um hier in Ruhe lesen und schreiben zu können. Ich hoffe, von hier mit einem Manuskript weggehen zu können, das zumindest so weit gediehen ist, dass ich es ohne all zu grosse weitere Mühe im Laufe des Frühjahrs oder Sommers fertigstellen kann. Der Text wird vielleicht eine Art Austrittserklärung aus der Kirche der heutigen "Erziehungswissenschaft" -, also jedenfalls etwas dramatisches und ... naja - wichtiges? Wichtig für mich jedenfalls, der ich mich ja seit Jahren in diesem Gebiet bewege.
Die Voraussetzungen für die Arbeit sind hier ideal: Ich habe meine Ruhe ohne ganz zu vereinsamen; ich habe die notwendige Infrastruktur einschliesslich einem computerkundigen und autofahrenden Vorleser, der mir bei äusseren Dingen hilft; ich werde bekocht und betreut ohne überbetreut zu sein ... Das Ganze spielt sich im Ojai Institut, einen Krishnamurti-Studienhaus ab. Ich habe den Ort mehr wegen der Ruhe und dem relativen Konfort gewählt -, dass ich hier lauter "K-Menschen" - Anhänger von Krishnamurti - treffe, ist für mich eher eine Überraschung, um nicht zu sagen ein biographisches Kuriosum! In der Schweiz habe ich so viel Zeit mit "S-Menschen" - Anhängern von Steiner - zugebracht, habe so viel gestaunt über die Gläubigkeit und Beschwingtheit dieser Leute, über die Sicherheit, die sie in Steiner finden - und jetzt - hier - erlebe ich dasselbe Phänomen -, dieselbe Verehrung eines Meisters -, nicht in einem unangenehmen Ausmass, aber dennoch irgendwie kurios. Seltsam ist auch, wie ich auf solche Gruppierungen reagiere: Obschon mir solche Gruppierungen immer etwas suspekt sind, kann ich sie doch nicht so einfach als "Sekten" oder "Spinner" etc. abtun, wie dies Freunde von mir manchmal tun. Hier fehlt es mir an Klarheit -, vielleicht auch an Respektlosigkeit und Plumpheit. Ich spüre jedenfalls - und dies eigentlich auch bei wirklich seltsamen "Sekten" - immer eine gewisse Faszination, als ob ich nie ganz ausschliessen möchte oder kann, dass diese Menschen etwas tatsächlich Wesentliches gefunden haben, an dem ich durch meine Nichtdazugehörigkeit vorbei gehe. Es ist als ob ich meinem Weg der relativen Skepsis nicht ganz traue, obwohl ich ihn doch begehe! Vielleicht sollte ich tatsächlich, wie diese Christin mir empfiehlt, auf die Knie fallen und beten, oder ich sollte mich, wie mir meine Schweizer Steiner-Freunde empfehlen, mit der "Philosophie der Freiheit" und anderen Schriften von Steiner befassen oder ich sollte mich in die "Teachings" von Krishnamurti versenken, wie es hier üblich ist ... Ich lächle über meine kindliche Sehnsucht, auch einen Glauben zu besitzen und einen Meister (oder eine Meisterin), und doch ist es klar, dass ich mich nicht so leicht zu dieser oder jener Gruppe geselle!
Ojai ist der Ort, an welchem Krishnamurti gestorben ist. Besonders während seiner letzten Lebensjahre - er starb vor ca. 10 Jahren - scheint er auch sehr viel Zeit hier zugebracht zu haben, während er früher fast immer unterwegs war, um Vorträge zu halten, Menschen zu treffen und Workshops abzuhalten. In seiner Kindheit wurde er von den Theosophen als Reinkarnation von Jesus (und Buddha) "entdeckt", und er hat diese Rolle (als Führer des Sternenordens) bis in die späten 1920er Jahre gespielt - hat wohl auch daran geglaubt. Dann hat er sich plötzlich von diesem Kult losgesagt, hat die Aufgabe der "Erlösung" gewissermassen in die Hände jedes einzelnen Menschen zurückgegeben und die restliche Zeit seines Lebens damit zugebracht, uns Menschen beizubringen, dass wir an keine Autorität ausserhalb unserer eigenen Wahrnehmung und unseres eigenen Denkens und Empfindens glauben sollen. "Die Wahrheit ist ein wegloses Land" oder so etwas soll er den Mitgliedern des Sternenordens gesagt haben, als er ihnen mitteilte, dass er nicht länger ihr Führer sei. - Und heute sitzen die K-Leute also überall in den USA und Indien und England und wo man sie noch findet und schauen sich die Videos ihres Meisters an ... Das Ganze wirkt etwas paradox -, aber wie gesagt: Mein Skeptizismus hindert mich wohl daran, die grössere Tiefe dieses Unternehmens und den emanzipatorischen Wert dieses Staunens zu begreifen. Gilbert würde jedenfalls sagen: ich verplempere meine Zeit mit irgendwelchen Sektenleuten. Ich sage dagegen vorsichtig: Die Menschen hier sind nett und interessant und wirken eigentlich nicht (noch nicht?) versteinert auf mich.
Aber eben: Ich bin ja nicht wegen Krishnamurti hier, sondern wegen mir! Im winterlichen, kalten Tenessy, wo ich drei Wochen in meiner schwulen Landkommune war, hat mich die Sehnsucht nach Sonne und Wärme übermässig ergriffen und - Anfang Februar - nach Houston (Texas), Arizona und dann nach San Diego (Kalifornien) gebracht. Was ich dort überall getan und erlebt habe? - O Denise! Zu viel, um es Dir hier zu erzählen! Jedenfalls nicht jetzt!
Was die Wärme angeht, so war der Entscheid, nach Kalifornien zu flüchten, eindeutig der richtige! Hier ist es jeden Tag sonnig und eben war es so warm, dass ich in mein Zimmer geflüchtet bin! Jetzt aber will ich "arbeiten", will es jedenfalls versuchen! Deshalb leb wohl für den Moment!
Donnerstag Mittag, 20. März 1997, immer noch Ojai, unter der Eiche und dem Eukaliptusbaum!
Die Zeit geht dahin - oder, wie ich mir habe sagen lassen: Die Zeit bewegt sich nicht, aber wir gehen dahin! Nun, wie auch immer, seit ich diesen Brief begonnen habe sind fast zwei Wochen ins Land gegangen. Meine Zeit hier ist schon beinahe vorbei! Wenn mich die Kälte aus Tennessy vertrieben hat, so wird mich die Wärme aus Ojai vertreiben! Ca. 20 km vom Pazifik entfernt ist Ojai bedeutend wärmer als San Diego und all die andern, direkt am Meer gelegenen Orte. Gestern und heute war's hier bereits um 30 Grad warm - und dies wohl gemerkt am letzten Wintertag!
Nun. Wie dem auch sei! Ich will wieder ein Stück weiter ziehen. Was meine Schreiberei angeht, so stehe ich etwas unglücklich vor einem weiteren nicht verwirklichten Anlauf .. Vor 10 Tagen schrieb ich Dir noch von einem "Manuskript", das ich von hier mit heim zu nehmen hoffe ... naja. Schöne Idee, aber: Der Mensch denkt und Gott lenkt! Ich habe zwar einiges geschrieben, doch - du ahnst es -, alles ist letztlich im Abfallkorb gelandet. Meine Vorstellungen über "das Schreiben" und meine Wirklichkeit sind noch immer zwei ganz verschiedene Dinge, und ich begreife nach wie vor nicht, wie ich in diesem Bereich eigentlich funktioniere oder funktionieren könnte.
Vielleicht muss ich akzeptieren, dass ich nur Anfänge produzieren kann. Tatsächlich: Anfänge - Gedankenansätze, Aspekte eines Problems. Ganze Abhandlungen, umfassendere Gedanken etc. -, all diese Dinge zerbröseln mir andauernd in den Händen. Dies habe ich jedenfalls auch hier wieder erlebt: Meine Versuche, etwas umfassender zu sein überfordern mich selbst, führen ins Abseits, Enden mit Abfallpapier Gefühlen der Müdigkeit und Mutlosigkeit und mit Bergen von unnütz verschwendetem Papier. Nachdehm ich mich hier sehr schnell in genau diese Ecke manöveriert hatte, habe ich (vor ca. 6 Tagen) beschlossen, mich nicht mehr durch die Zielvorstellung eines grösseren, zusammenhängenden Textes zu blockieren, sondern eben das zu tun, was ich offenbar relativ leicht und mit einer gewissen Lust tun kann, nämlich: Kleine, in sich geschlossene Texte zu dieser oder jener Frage zu schreiben. - Das schien mir für ein oder zwei Tage ein erlösender Gedanke, doch merke ich jetzt, wo ich Dir davon erzähle, dass ich inzwischen auch dieses Projekt im Grunde aufgegeben habe. Ich habe gar nicht mehr versucht -, habe die Flinte bereits ins Korn geworfen,weil mir die Zeit hier ohnehin zu Ende geht. Der Verhinderungsteufel in mir hat gesiegt - ich habe aufgegeben ... einmal mehr! Das alte Scheusal! ...
Heute bin ich am Aufräumen und Ordnung machen: Ich will ein paar Briefe für die Post fertig machen, will die Papierberge auf meinem Tisch durchkucken, will auch die vielen Kassetten-Bücher, die sich um mein Bett stappeln, ordnen und wegschicken, was weg kann. Vielleicht bin ich dann wieder in der Verfassung, mich der verzwickten Schreiberei zu widmen, denn natürlich: noch habe ich mindestens eine Woche hier!
Über Ostern müssen wir Langzeitgäste sämtlich das Institut räumen, da es seit langem schon an eine Meditationsgruppe vermietet und ganz ausgebucht ist. Ich denke, dass dies für mich dann auch das Ende meines hiesigen Aufenthaltes sein wird. Eventuell fahre ich noch einmal für ein paar Tage südwärts, nach San Diego, um Cathrins Befreiung vom Schuldienst mit zu feiern. Dann aber will ich nun doch noch nach San Francisco -, doch noch sage ich, weil ich eine Weile lang das Gefühl hatte, dafür keine Zeit mehr zu haben; zudem hatte ich nach meinen drei Wochen in Tenessy für's erste genug vom Leben in einem "schwulen Milieu". Jetzt scheine ich dafür (und auch für die Stadt) wieder reif.
So. Jetzt will ich Schluss machen, damit ich mit dem Aufräumen weiter komme. ... Leb wohl, Du liebe gute Denise! Lass Dich ganz herzlich umarmen und drücken! Ich hoffe, bei Dir läuft alles in froher und sympathischer Weise: Nicht zu viel Kummer mit der Familie oder besser noch - Freude über Freude mit Deinen lieben, und eine geschickte Hand in allem, was Du tust, das wünsche ich dir! Wenn Du magst, so schreib doch mal!
Ganz herzliche Grüsse deinen drei Kindern und dem Konstantin,
Martin