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In der Schule lebt gefährlich, wer seine Menschlichkeit nicht über Bord werfen will!

"Die Resultate der jetzigen Schule - worin bestehen sie? abgenützte Hirnkraft, schwache Nerven, gehemmte Originalität, erschlaffte Initiative, abgestumpfter Blick für die umgebenden Wirklichkeiten, erstickte Idealität unter dem fieberhaften Eifer, es zu einem Posten zu bringen." - Ellen Key

Dass Schule, statt von Jahr zu Jahr spannender zu werden, die Kinder und Jugendlichen in aller Regel von Jahr zu Jahr mehr anödet oder langweilt, das scheint hierzulande schon beinahe als Naturgesetz zu gelten. Man rafft sich manchmal noch auf zu einer schwachen Kritik oder einer ebenso schwachen Rechtfertigung des Status quo: ein ernsthaft diskutiertes Thema ist unsere Schule jedoch nicht! Leider -, denn was in ihr geschieht ist ebenso erschreckend und bedrohlich, wie die Zunahme psychischer "Erkrankungen", das Umkippen der Meere, das Problem der Abfallberge oder die Schreckensvisionen einer ausser Kontrolle geratenen Gentechnologie. Ob uns die konstruktive Auseinandersetzung mit diesen und andern aktuellen Bedrohungen unseres Lebens gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir allmählich damit beginnen, auch das Thema Schule als äusserst brennendes Thema ernst zu nehmen!

Was ist los mit dieser Schule, die in den letzten 100 oder 150 Jahren ständig kritisiert und reformiert wurde, ohne dass sie dem, was sie sein könnte oder sein müsste näher gekommen zu sein scheint, die trotz Ellen Key und Pestalozzi, trotz Tolstoj und Montessori nicht aus ihrer Dauerkrise herauszukommen scheint?

Ich denke, dass es uns immer wieder in einer sehr tiefen Weise an Respekt und Gefühl für die Tatsache fehlt, dass unsere Kinder Menschen sind, die einen eigenen Willen, eigene Ideen, Gefühle, Pläne und Sorgen, eigene Gewohnheiten und Reaktionsweisen haben. Es sind Wesen, so würden einige noch hinzufügen, mit ihrem eigenen Schicksal, ihrer ganz individuellen Lebensaufgabe und Bestimmung. In diesem Sinn ist für unsere Kinder in der Schule im Grunde fast kein Platz mehr da.

Dass dies so ist merken wir immer dann, wenn ein Kind sich weigert, auf das "Angebot" eines Lehrers oder einer Lehrerin einzusteigen. Zwar wird heute kaum mehr geprügelt - man ist ja human geworden, auch in den Methoden der Klassenführung. Es wird jedoch beschönigt, versprochen, ermahnt, angedeutet, ignoriert und gedrängelt bis alle die kleinen Persönlichkeiten ihre (eigenen!) Gedanken, ihre Pläne und Projekte zurückstellen und zumindest äusserlich "mitmachen". Wenn die sanften Methoden der Verführung nicht ausreichen, so wird (das muss halt manchmal sein!) auch ein wenig gedroht, ein wenig befohlen, ein wenig blossgestellt und lächerlich gemacht oder (na ja, auch das kommt vor!) ein wenig physische Gewalt angewendet. Sätze wie "machst du bitte weiter", "jetzt wollen wir Schluss machen", oder "ihr dürft jetzt alle noch ein wenig für euch arbeiten" erzeugen einen Schein von Freundlichkeit, Freiwilligkeit und Normalität, mit dem die Schule auch kritische Menschen immer wieder betört. Die Kinder merken jedoch bald, dass es sich bei diesen Sätzen nicht um Fragen oder Vorschläge, sondern letztlich um Befehle handelt, denen sie, wenn sie nicht rausfliegen wollen, über kurz oder lang gehorchen müssen. Nach und nach setzen sich in den Schülern und Schülerinnen die wichtigsten Lektionen, die wir in der Schule lernen, fest:

1. Die Schule ist eine gute Sache. Es ist nicht erlaubt, ernsthaft daran zu zweifeln.
2. Ich bin hier um zu funktionieren und zu gehorchen.
3. Meine eigenen Gedanken und Gefühle zu zeigen ist gefährlich, ausser wenn der Chef mir zulächelt, dann darf ich!
4. Wenn niemand was sagt, sag ich besser auch nichts. Es könnte ja falsch sein!

Auf dem Hintergrund des eben gesagten wird verständlich, weshalb das Thema Schule heute kaum jemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Dutzende von Studien weisen nach, dass Kinder ausserhalb der traditionellen Schule in der Regel leichter und schneller lernen als in der Schule. Wir staunen - und alles bleibt beim Alten! Seit Jahrzehnten wird über das Problem der Schulangst, über das Problem der schulbedingten Dummheit oder über den scheinbar grundlosen Vandalismus an vielen Schulen geschrieben. Wir sind ein wenig betroffen - und nichts geschieht.

Mein Freund Daniel schickt seinen kleinen Jungen jeden morgen zur Schule, obschon der Erstklässler nach 4 Wochen erklärte, er wolle da nicht mehr hin, obwohl er seit einiger Zeit wieder ins Bett macht und morgens nicht aufstehen will. - Viele Lehrer und Lehrerinnen bestätigen mir immer wieder, dass das, was ich über das Elend in den Schulen sage, leider sehr wahr sei, dass sie daran aber im Grunde nichts ändern könnten. Sie sprechen von Übertrittsprüfungen, von Selektions- und Stoffdruck, von der mangelnden Solidarität im Kollegium.

Wäre die Schule nicht eine Zwangseinrichtung, zu der man nötigenfalls von der Polizei "hingebracht" wird, und wäre sie nicht bis weit über die Zeit der Schulpflicht hinaus so eng mit dem Berechtigungswesen verknüpft, so könnte man den grössten Teil unserer Sekundar- und Mittelschulen schliessen. Wirklich freiwillig gingen vielleicht noch 5% der 13 bis 18-jährigen regelmässig. Die übrigen würden allenfalls gelegentlich hingehen - zu besonderen Anlässen und ab und zu vielleicht auch, um sich einen Rat zu holen.

Unter der Hand und im Vertrauen heisst es: "ja, es stimmt", doch offiziell hat niemand etwas gesehen! Es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Man hat uns die Sache gründlich beigebracht: Wir vertrauen weder unserem Gefühl noch unserem eigenen Verstand. Wir schwimmen, aus Angst vor Konsequenzen, mit dem Strom und lassen unsere Kinder und damit letztlich auch uns selbst im Stich. Wir sehen nicht, was wir nicht sehen dürfen! Seit dem Bestehen unserer Schulen wird an ihnen herumkritisiert und herumreformiert. Jedes Mal hofft man, durch die nächste Schulreformrunde das Glück, das immer gleich um die Ecke zu liegen scheint, endlich eingeholt zu haben. Es geschieht tatsächlich viel im Bereich der Schule. Doch geschieht das eigentliche?

Was wir brauchen ist kein neuer grosser Schulreformplan, der von ExpertInnen ausgeklügelt, von VerwaltungsbeamtInnen zu Ausführungsbestimmungen verarbeitet und vom Personal an der Basis gehorsam in die Praxis umgesetzt wird, während die Eltern staunend, entzückt oder verärgert daneben stehen und die übrige Welt desinteressiert ihren Geschäften nachgeht. Was wir heute in aller erster Linie brauchen ist mehr Raum für Initiativen von "unten", d.h. konkret: mehr Raum für Kinder und Eltern, Lehrerinnen und Lehrer das zu tun, was sie in Sachen Schule gerne tun würden. Die Erziehungsbehörden könnten Träger dieser Schulen bleiben. Sie müssten jedoch lernen, sich nicht mehr in erster Linie als anordnende und Kontrollierende Instanz zu sehen. Ihre Hauptaufgabe wäre es vielmehr, all denen, die in ihrer Schule oder ihrem Schulkreis etwas verändern wollen beratend und helfend beizustehen, falls ihr Beistand und Rat gewünscht wird. Dabei wäre es gleichgültig ob es sich bei den Rat suchenden um Kinder, Eltern, LehrerInnen oder andere Menschen der Gegend handelt. Dort, wo niemand etwas tun möchte, könnte alles beim alten bleiben. Die Freiheit soll niemandem aufgezwungen, sondern nur gewährt werden, wo sie gewünscht wird. Dabei ist kritischer Widerspruch durchaus erlaubt. Man dürfte sich einmischen, dürfte eine andere Meinung haben. Eine solche Schule würde nicht nur den Kindern und LehrerInnen mehr Spass und den Eltern weniger Sorgen machen. Auch die MitarbeiterInnen der Schulbehörden und Erziehungsdepartements hätten an ihrer neuen Arbeit letztlich mehr Freude als an ihrer jetzigen.

Utopien? Träumereien?

Nicht ganz. Überall in unserem Bildungswesen sind Menschen tätig, die von einer solchen Schule träumen und sich für sie einsetzen. Es gibt viele LehrerInnen, die versuchen, ihre Schule so weit wie möglich mit den Kindern statt gegen diese zu gestalten. Es gibt Schulreformprojekte, in denen die Stärkung der Autonomie der einzelnen LehrerInnen und Lehrerinnenkollegien zentrales Anliegen ist. Es gibt hie und da Elterngruppen, die sich nicht mehr länger mit der Rolle der Zuschauer zufrieden geben, sondern in der Schule auch dann mitzureden beginnen, wenn sie nicht in der Schulpflege oder einem andern offiziellen Gremium sitzen. Es gibt (in diesem Heft ist an anderen Stellen ausführlich davon die Rede) Gruppierungen, die sich um die politische Verwirklichung und die Schaffung der rechtlichen Grundlagen eines Freien Bildungswesens bemühen. Es gibt in der Schweiz zahlreiche Menschen, die trotz der Diskriminierung durch den Staat beschlossen haben, ihre eigenen Schulen zu gründen und zu betreiben. Es gibt Kinder und Jugendliche, die sich nicht mit einem "ist ja egal" in ihr Schicksal ergeben und mit einem "sonst kommst du nicht durch" in die Welt der Heuchelei und Betrügerei zurückziehen.

Dass die hier skizzierte Umwandlung unseres Bildungswesens letztlich nur Hand in Hand mit ähnlichen Prozessen in andern Bereichen unserer Gesellschaft möglich ist, ist selbstverständlich. Wenn wir den selbstzerstörerischen Kurs unserer Zeit wirklich aufhalten und nicht nur über ihn jammern wollen, ist unser aller Mut gefragt! Wer seine Menschlichkeit bewahren will lebt gefährlich, innerhalb und ausserhalb der Schule. Wer sie aber aufgibt, hat aufgehört zu leben.

Martin Näf, Basel. Erstmals veröffentlicht in: "Endlich!", Zeitschrift der Vereinigung Freier Schulen der Schweiz, 1. Jg. Nr.1 März 91, S.7-8