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Wie Reisen blinde Leute?

Nun ja - sie packen einen Rucksack oder einen Koffer und rufen ein Taxi oder stellen sich an die nächste Ausfallstrasse in die grosse weite Welt, den Daumen hoffnungsfroh nach oben gestreckt! - Auch in diesem Bereich gilt: Die Geschmäcker sind verschieden, und "den blinden Menschen" gibt es allenfalls auf dem Papier. Wir sind von einander so verschieden wie - naja, wie Menschen eben verschieden sind voneinander! Und wenn es um's Reisen geht ist es nicht anders: Die Einen gehen allein in die weite Welt hinauf, die anderen ziehen Pauschalreisen vor -, entweder ganz "gewöhnliche", die sie irgendwo buchen, oder solche, die beispielsweise vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband speziell für diese "Klientel" organisiert werden. - Erschienen im SBV-Kalender 2000, Martin Näf

Was mich selbst angeht, so bin ich eher der typische Individual- um nicht zu sagen Ruck- und Schlafsacktourist! Als solcher reise ich dann ... Nun zum Beispiel

mit dem Containerschiff in die USA!

Die Rederei wollte mich zuerst gar nicht an Bord nehmen: "Behinderte ausgeschlossen; Menschen über 70 nur mit ärzlichem Zeugnis", so hiess es im Passagevertrag. Da war meine kreative Fantasie und meine Geduld mit der Welt gefordert, aber schliesslich klappte es dann doch! An Weihnachten 1996 sind wir in See gestochen: 250 Meter Schiff, 20 Mann Besatzung und zwei Passagiere! Nach 14 Tagen äusserst friedlicher Überfahrt waren wir in New York! Der Kapitän erklärte mir beim Abschied, er habe getobt, als man ihm gesagt habe, dass das mit dem "blinden Passagier", den er an Bord haben werde, kein Witz sei! Er habe so doch wirklich Probleme genug ... Ja, es tue ihm leid, er wolle mich nicht beleidigen, aber er habe gedacht, er müsse mich während der ganzen Fahrt betreuen, und jetzt! Er habe so gestaunt, wie frei ich mich mit meinem weissen Stock über sein Schiff bewegt habe und wie fröhlich ich immer gewesen sei. - Seine Offenherzigkeit freut mich; aber das was er sagt -, nein, darüber freue ich mich eigentlich nicht. Aber was soll's!

Neben dem Alleinreisen und dem Reisen mit sehenden Freunden, die mir natürlich viel alltägliche "Überlebensarbeit" abnehmen, ist das Unterwegssein mit anderen blinden Menschen für mich ganz besonders spannend; dabei muss es nicht immer der Amazonas oder das Nordkap sein!

Zwei blinde Wanderer!
So beschlossen Pina, eine blinde Freundin und ich eines schönen - wirklich sehr schönen! - Tages, eine kleine Wanderung durchs Baselbiet zu unternehmen! Vielleicht nach W., wo wir bei X. übernachten könnten! - Gut gut. Per Zug bis M. und dann zu Fuss weiter. Nur: Wohin. Um Trotoirränder, Abfalleimer oder Bäume orten zu können sind unsere weissen Stöcke ideal! Aber Wegweiser sehen wir trotzdem keine! - Ein paar nette Menschen erklären uns schliesslich, wie wir auf den rechten Weg kommen. Wenn wir den mal haben ...

Schliesslich scheinen wir den Einstieg gefunden zu haben. Wir sind schon mehr als eine Viertel Stunde unterwegs. Um uns ist Wald; die Luft ist Feuchter, die Geräusche sind anders.Aber oje! Was ist das? Statt aufwärts geht der Weg plötzlich wieder runter ... zurück nach M., und obwohl M. ein kleines schnuggeliges Nest ist, wollen wir eigentlich nicht dorthin zurück! Also was tun? Menschen scheinen keine in der Nähe und die Wegweiser sehen wir so schlecht wie zuvor. Weil wir keine Lust haben, noch lange im Kreis zu gehen, entschliessen wir uns für eine radikale, aber sehr wirksame Methode. Wir verlassen den bürgerlichen Weg der Tugend und gehen und kraxeln immer Berg auf durch den Wald -, bergauf, bergauf, bergauf! Irgendwnn, so denken wir uns, werden wir auf einen quer zu uns verlaufenden Weg stossen, der uns hinauf auf's Plateau bringt! Und tatsächlich: Nachdem wir uns wohl eine halbe Stunde zwischen Bäumen und Büschen durchgeschlängelt, uns in dornige Ranken verheddert, uns an irgendwelchen Wurzeln über die steilsten Stellen hochgezogen und zwischendurch auch mal Pause gemacht und die Stille des Waldes genossen haben stehen wir plötzlich wieder auf einem Weg! Nach weiteren fünf oder zehn Minuten sanften Anstiegs kommen wir aus dem Wald. Die Welt hört und fühlt sich wieder weiter an. - Wir glauben wieder an unseren Weg und wandern frohen Mutes über die Hochebene! Wo wir wohl hinommen? - Es ist wie auf der Wanderung durch unser Leben: Man denkt sich dies und das und versucht anhand irgendwelcher Zeichen die richtigen Entscheidungen zu treffen, aber ob man letztlich auf dem rechten Weg ist oder nur im Kreise geht, weiss man nicht bis man plötzlich ...Hoppla! Es geht wieder runter. Sanft, aber deutlich. Nun ja. Die Chance, dass wir wirklich nach W. kommen ist nicht gross, aber wer weiss! - O. Wir kommen in ein Dorf. Da scheinen Häuser oder so was am Wegrand. Und weiter vorne eine Strasse! Und das - was ist das? Vielleicht ein Postauto? Wir gehen schneller -, so schnell es geht mit diesen weissen Stöcken. Ich fuchtle mal provisorisch mit meiner freien Hand, denn wer weiss, vielleicht sieht der Chauffeur uns ja und wartet! Jetzt noch über die Strasse und vorne um das Auto rum. Ja. Es muss ein Postauto sein, denn - pffff - da geht eine Tür auf und - es ist wie in einem Film: Ich mache eben meinen Mund auf, um mich nach dem Namen des Ortes zu erkundigen, in dem wir gelandet sind nach diesen drei oder vier Stunden Natur und Feld und Wald-Erfahrung, da klingt es vom Fahrersitz herunter: "Na, Martin, wo wollt ihr denn hin?"! Ich bin platt, denn so viele Postautofahrer kenne ich nicht! Aber den Einen, den ich kenne, den hat das Schicksal hier für uns bereitgestellt, und, um die Sache ganz rund zu machen, sagt er uns, dass er in einer Minute nach W. fahre -, nein nein, wir seien ganz nah. Noch ein Dorf!

Natürlich ist auch mir das Glück nicht immer so hold! Und - viele blinde Menschen würden nie so improvisierend und auf mehr oder weniger gut Glück in die Welt hinaus ziehen wie ich oder meine abenteuerliche Freundin, denn, wie gesagt: Die einen packen den Rucksack, die andern packen lieber einen Koffer und wieder andere ...

Und was hat er davon, wo er die Sachen doch nicht sieht?
Das fragte die Mutter einen meiner Freunde, mit dem ich in den letzten Jahren viel unterwegs war. Ja, was hat er davon? Nun: Gerüche, Begegnungen, Eindrücke und abenteuerliche Erlebnisse! Kulinarische Genüsse, gemütliche Abende, warmen Sand zwischen den Zehen, Salz auf der Haut nach dem Schwimmen im Meer, ein unalltägliches Leben ... viele, viele Eindrücke! Ja manchmal kommt es mir vor als ob ich den glitzernden, nach langem Aufstieg plötzlich unter uns liegenden Brienzersee, auf den A. so stark reagiert hat, oder das mit R. ausgiebig umwanderte und studierte chweriner Schloss oder die elegante Siluette der Golden Gate Bridge mit der dahinter im Meer versinkenden Sonne, die B. mir beschreibt, auch selbst gesehen habe. Und doch. Die Frage der Mutter meines Freundes bleibt. Sie ist wie ein Stachel im Fleisch. Nicht dass ich jetzt überlege, nicht mehr zu reisen, aber - ja: Was hat man davon? Wie reise ich - konkret, physisch, in Mexico oder Polen - und im übertragenen Sinn durch die Höhen und Tiefen dieses Lebens? Wie reise ich da? Wo getraue ich mich, meie Fragen zu stellen und wo bin ich zu schüchtern? Wo gehe ich meiner Neugier nach und wo stoppe ich mich selbst, indem ich mir sage: "Ach, lohnt sich nicht" oder "ach, ich seh's ja sowieso nicht" ... Der Stachel im Fleisch fordert mich heraus, mich jeden Tag neu zu er-finden und wach zu klopfen, ob ich nun verschlafen in San Francisco auf die Strasse vor meinem Hotel hinaustrete und einen Menschen anhaue, damit er mir den nächsten Cofyshop zeigt oder ob ich mit der Zahnbürste im Mund meinem Alltag entgegenblinzle.