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An Gilles H., im Juni 1997, auf dem Atlantik

lIEBER gIL! jA, EIN bRIEF! rICHTIG ALTMODISCH. mIT pÖSTLER, lEDERTASCHE UND sCHWEISFINGER! wIR KEHREN INS mITTELALTER DER kOMMUNIKATION ZURÜCK. nUR MEINE sCHUSSELIGKEIT UND DIE tIPFEHLER BLEIBEN!

Vielleicht hat's Dir ja schon ein Spatz vom Apfelbaum gezwitschert oder Pina hat's Dir verbraten, während ihr zwei Eure Leben neu in den Griff geredet und zu dem gemacht habt, was sie doch eigentlich sein sollten: Spannende, einmalige Abenteuer mit Jubel und Jauchzen, als einziger Begleitmusik - allenfalls noch lustvolles Stöhnen und genüssliches Seufzen und Grunzen! Vielleicht also wunderst Du Dich nicht so sehr, dass dieser Brief von den Bermudas zu Dir kommt! Ich habe - Frucht fleissigen Suchens und Stöberns - Ende Mai tatsächlich ein Schiff dingfest gemacht, das mich mit nach Europen nehmen würde. Nun schippern wir schon den vierten Tag auf dem alten Atlantik - Columbus rückwärts, sozusagen: Ford Lauterdale (Florida), Bermudas, Azoren, Gibraltar. Am 12. Juli sollten wir dort ankommen ... ja, sollten, denn - naja, bis dahin ist noch weit und kann da noch dies und was anderes dazwischengeraten, wie Du Dir ja sicher leibhaft vorstellen kannst.

Gil. Es gäbe ja wieder viel zu erzählen! Wann haben wir uns zuletzt elektrisiert? Vor drei, vier Wochen war das wohl. O Gott. Jetzt torkelt unser Kapitän fluchend durchs Schiff, weil jemand seine "fucking maches" genommen hat! Er leidet an "Compac". Hat sich einen neuen Computer gekauft und sitzt jetzt andauernd hier unten in unserem Salon und pröbelt an seinem Ding rum, während oben die Segel vaterlos im Winde schwanken! Jetzt allerdings scheint ihn die Vernunft zu übermannen und er wendet sich dem Kochen zu. Er hat uns - wir werden es ihm ewig danken - ein Reisgericht mit Hühnchen versprochen.  - Doch ach: Nur kurz schwingt sich die Hoffnung in den tropischen Himmel, eh sie sternschuppenartig in ein Nichts zergeht -  und es sitzt wieder an seinem Compi unser Kapitän, Tom Z. aus Germania - eine frisch entflammte Zigarette in seiner knöchernen Hand!

Also, Gil, es gäbe ja wirklich viel zu erzählen: Ich habe nach Portland (Oregon) meine ganze USA-Tour rückwärts aufgewickelt, habe all die Menschen, die ich in den letzten Monaten besucht und kennengelernt habe, noch einmal besucht, um von ihnen Abschied zu nehmen: Ich habe in San Francisco (zwei Tage bevor ich endgültig von dort in Richtung Süden aufbrach) die schönste Liebesnacht meines Lebens erlebt (o schön schön schön war das, so schön!) Ich habe es bei Krishnamurti und bei meinen Ziegenhirten in Tennessee noch einmal langweilig, bei Cathrin in San Diego noch einmal stressig und spannend und schön, bei Barb und C.G. in San Jose noch einmal eher deprimierend (Mensch scheidet doch endlich!) gefunden -, habe in San Diego  die erste Windsurf-Lektion meines Lebens (o neu entdeckte Freude meines Leibes!) gehabt und mich in New York noch einmal mit Jeffrey, meinem "schwarzen Bruder" getroffen (o Mutter Theresa und Pestalozzi, helft mir hilflosem Helfer -, zeigt mir den Weg -, Gott, war das spannend: Martin mitten in den Slums des grossen New York!!!). Und jetzt also das Boot! Das grosse Abenteuer! Der Gipfel meiner Reise ... der Gipfel oder die grosse Pleite?

Gil, ich sage Dir, Träume sind was sehr schönes und manchmal ist es auch toll, wenn sie in Erfüllung gehen, aber eben nur manchmal! Warum hat mir niemand von der  grauslichen Seekrankheit erzählt, die mich nach den ersten zwölf Stunden heiteren Wellengeschaukels überfiel? Weshalb hat mir niemand von der Enge meiner Kabine gesprochen? Weshalb hat niemand mir die Langeweile beschrieben, die den wieder Genesenen befällt, wenn es da draussen Stunde um Stunde nur plätscher und auf und ab wallt und plätschert, und nix kannst Du tun, weil die Sonne entweder zu heiss auf Deine Birn scheint oder der Regen zu nass ist, und weil alles so feucht ist und klebrig, dass Du Dir nicht mal getraust - zuerst jedenfalls, wo die Sach noch so neu ist - den alten Computer aus seinem Gehäuse zu raffen, um Freunden jammervolle Briefe zu schicken!

O Gil! Ich weiss es. Ich hätte nicht gehört auf die Warner, ich weiss es. Doch haben nicht an den Mastbaum gefesselt die Freunde Olissens, den Helden, als sie sich nahten jenen sangesbrünstigen Jungfern, wohl wissend, dass er vom Schiff ihnen springen würde vom Klang der Sirenen verlockt! Warum packte mich niemand ein in eine Kiste und schippte mich flux zurück in die Heimat, die ach so geliebte? Was überlasst ihr mich meinen kindlich unreifen Träumen! Nein nein! Mit Freundschaft entschuldigt nicht diese unangemessene Weichheit Eurer Gefühle! Nicht romantisches Fühlen und Schauen soll uns am Ruder des Lebens stehen, sondern gelass'ne Vernunft und kühle Berechnung! Ist es nicht so? Und auch Du, mein Geliebter, der seit Jahren Freund Du Dich nennst und den so zu nennen ich gleichfalls mich jahrelang freute - hast nicht auch Du mich tatenlos in den Abgrund meiner kindischen Träume stolpern lassen!!!??? Du weisst, ich verehre des Humanisten dialogische Haltung, doch gibt es Momente, wo der Freund dem Freunde kein Freund ist, wenn er sich scheut, ihm sein kindisches Glück aus der Hand zu schlagen ohne auf sein Jammern und Schreien zu achten. Oder  hast Du heimlich auf meine nicht existente Lebensversicherung gehofft, wenn unser löchriger Kahn - ach er wär nicht der erste - auf nimmer wiedersehen im Bermudadreieck verschwände oder ich dem Wahnsinn verfallen als Ruine nur noch erschiene im heimlichen Basel? O Gil, der Du mir immer so weise erschienest und mich doch hie und da mit Deiner Weisheit beglücktest -, weshalb warntest Du mich nicht vor der Grausamkeit des Meeres, vor seiner Weite und der Enge des Schiffes? Jetzt sitze ich hier - nun, ich gesteh es: Der heutige Tag war schon besser! Doch ach, wie zählt' ich die Tage als krank ich mich auf meiner Koje wälzte, krank, depressiv und mutlos! - Dabei genoss ich eben noch des Lebens wie lange nicht mehr! Und nun dieses! Und dafür bezahle ich Trottel auch noch Geld! Naja ... so geht der Mensch durch sein Leben und stösst sich den wehen Schädel an allerlei Balken und zwischendurch flöten ihm Vögel vertraulich ins Ohr und dann stirbt er.

Klartext: Es war wirklich ein Schock der Anfang. Es kann wohl noch schlimmer werden, doch nach diesem Anfang ist es auch möglich, dass es nur noch besser wird. Im Augenblick ist für mich (und den Kapitän) noch offen, ob ich wirklich den ganzen Turn bis Gibraltar mitmache oder ob ich evtl. auf den Bermudas aussteige und per Frachter oder Flugi nach Europa zurückkehre. Auf Tortur pur habe ich echt keinen Bock - auch mein Masochismus hat seine Grenzen und ich muss nicht unbedingt jede Sache, die ich beginne bis zum geht gar und überhauptnichtmehr durchseuchen, nur um als Held vor mir selbst und der Welt zu bestehen! Jetzt haben wir also noch etwa drei Tage, wo sich zeigen kann, in wie weit mein Körper sich tatsächlich an die See gewöhnt hat (oder noczh gewöhnen wird) und in wie fern ich hier an Bord ein irgendwie überlebbares Leben entfalten kann. Der Anfang war auch in sozialer Hinsicht derb, denn wir waren Alle ziemlich k.o.; das scheint sich seit gestern etwas geändert zu haben. Heute fing's teilweise an, richtig gesellig und gemütlich zu werden -, allerdings hat auch die Wackelei der ersten Tage etwas nachgelassen, und das Wetter beeinflusst unser kollektives Glück ziemlich stark.

Ja, Gil. Lassen wir's mal bei diesem Chaosbrief. Weitere Erklärungen etc. folgen dann mündlich - bei Dir im schönen Fribourg oder bei mir im schönen Basel -, denn auf welche Weise auch immer: Irgendwie werde ich demnächst wieder in der alten Schweiz auftauchen! - Viele liebe Grüsse und bis sehr bald!