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An Johanna M., 22. April 2003

Tut mir leid, dass ich Dich wiedermal so lange ohne Antwort liess. Zu viel anderes war im Weg und hat das Schreiben behindert und auch jetzt schreib ich aus so einer Art Abfallberg der unerledigten Musts und Shoulds heraus.

Liebe Hanna! Wann und ob und wie ich von hier wegkomme, weiss ich im Moment überhaupt nicht. Nachdem ich seit Anfang März immer auf O.s Rückmeldung  auf meinen ihm Anfang Februar geschickten Text gewartet habe, hat er mir vor einer Woche endlich geantwortet - allerdings nicht so, wie ich gehofft und eigentlich erwartet hatte. Er hat nämlich gesagt, dass die Arbeit in der jetzigen Form als Habilitation nicht in Frage komme. Das Buch sei zwar eine gut recherchierte Geschichte der Odenwaldschule, aber die aktuelle Theoriediskussion sei fast überhaupt nicht berücksichtigt und auch meine Forschungsmethoden würde ich nicht offenlegen und begründen. - Diese Rückmeldung würde mich ja nicht vom Surfen abhalten, aber sie bringt meine Pläne im Augenblick schon etwas durcheinander.

O. meint, der Text müsste "wesentlich überarbeitet" werden. Darauf habe ich nun überhaupt keinen Bock und von mir aus gesehen ist das auch nicht nötig. Doch wenn ich die Sache mit der Habilitation in Zürich nicht ganz vergessen will, dann muss ich ihn von meiner Sicht der Dinge überzeugen, und das wird nicht leicht sein. An sich hat dieses Dörbi keinen grossen Einfluss auf meine Arbeit, aber für meine Motivation war dieses lange Warten und der überraschend negative Bescheid doch nicht gerade förderlich.

Es denkt also im Kopf und im Herzen blubbern undeutliche Gefühle. Bei dieser ganzen Geheeb II-Sache ging's mir ja an sich von Anfang an einfach darum, dieses Buch endlich zu machen, d.h. die ganze Biographie hinter mich zu bringen und zu veröffentlichen. Das hat mit dem akademischen Leiterlispiel der Habilitation direkt nichts zu tun. Es könnte allenfalls etwas schwieriger sein, den Nationalfond dafür zu gewinnen, die nötigen Druckkostenbeiträge für das Buch zu übernehmen. Im Verlauf des vergangenen Herbstes habe ich mich aber allmählich mit der Idee angefreundet, mich in den nächsten Jahren als P.D. im Umkreis der Uni zu bewegen -, nicht ganz drin, aber doch irgendwie mit dieser Szene verbandelt. Nachdem ich im September letzten Jahres die ganze Sache noch einmal mit O. beredet hatte, schien es auch, dass es da keine Hindernisse geben würde. Nun gibt's die offenbar doch und ich weiss nicht recht, ob ich die unerwartete Fastabsage von O. nicht als Wink des Schicksals deuten soll, mich nicht noch mehr in ein Milieu hineinzubegeben, in dem ich mich bisher nie wohl gefühlt habe oder ob hier wirklich eine Möglichkeit Bach ab geht, die für mich toll gewesen wäre.

Naja. So rätselt's also in mir drin. Meine erste Reaktion, als ich O.s Rückmeldung erhielt, war Staunen und dann ein ganz frohes Gefühl: Befreit! Jetzt nach und nach kommt auch Bedauern und Enttäuschung darüber, dass er nicht sieht, was alles in dieser Arbeit steckt. Gekränkter Stolz vielleicht auch, aber eigentlich eher Enttäuschung.

Das ganze beschäftigt mich nicht Tag und Nacht, aber bevor ich über Ende Mai hinaus planen und denken kann, muss dieser Abfallberg doch noch aufgearbeitet werden.

An Geheeb selbst habe ich seit Anfang März fast nichts mehr gemacht, weil ich einerseits von PC-Problemen heimgesucht war und weil ich immer auf O.s gewartet habe. Ich hab die Zeit stattdessen mit anderen Geschäften gefüllt, habe die Neugestaltung der Web-Seite des Geheeb-Archivs in Angriff genommen, habe mit köstlicher Hilfe von Lorenz Kühni einen seit Jahren halb vollendet herumliegenden Artikel über Alfred Zander soweit gekürzt und zurechtgestutzt, dass die "Traverse" (eine mit dem Chronosverlag verbundene historische Zeitschrift) ihn jetzt hoffentlich nimmt und veröffentlicht, und ich habe mich vor allem in die Politik gestürzt, um mitzuhelfen, dass das Schweizer Volk am 18. Mai Ja zur Behinderteninitiative sagt. - Das war zwar alles irgendwie interessant und es ist sicher auch gut, wenn ich Altlasten wie den Zander-Artikel endlich abarbeite, aber viel Lust und Spass steckt in all den Dingen nicht drin. Es roch alles sehr nach Pflicht und Arbeit und Erwachsensein. Insofern wären ein paar Wochen auf Lesbos  sehr willkommen und was Du über Dein Häuschen und die bayrische Eva schriebst klang ja sehr verlockend. Ich muss aber zuerst mal sehen, wie sich die Dinge in den nächsten Wochen  entwickeln, bevor ich weitere Pläne mache.

Nächste Woche will / muss ich noch einmal zwei Tage auf den Hasliberg (Ecole) und Anfang Mai habe ich mich für ein Familienaufstellungsseminar angemeldet. Darauf freue ich mich sehr. Ich bin besonders gespannt, weil sich das Seminar nur an schwule Männer wendet, was sich wie ich hoffe anregend auf die ganze Sache (Arbeit und Freizeit) auswirkt. In der zweiten Mai-Woche bin ich dann wieder hier.

So. Jetzt  weisst Du wenigstens mal, wie's hier zur Zeit ausschaut. Das mit Deinem Häuschen klang ja gut. Ich hoffe nur, dass sich die diesbezüglichen Pläne und Abmachungen nicht wieder geändert haben und Du im Juni wirklich einziehen und Dein Leben als griechische Weberin im "eigenen Haus" beginnen kannst. Etwas bekümmert bin ich über die schlechte Auslastung Eurer Seminare. Ist damit nicht auch Dein Job gefährdet? - Inzwischen bist Du ja wahrscheinlich bereits umgezogen und ihr habt die ersten Gäste gehabt. Die Saison beginnt. Ich drücke die Daumen, das alles so geht, wie Du es geplant und gehofft hast, und dass Du froh und zufrieden bist - so oder so, wie auch immer die Dinge sich entwickeln, das wünsche ich Dir auch! In diesem Sinn und Geist noch einen schönen Tag und bis bald wieder, Martin