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An Peter B., 5. Juli 1998, Basel

Lieber Peter! Anbei schicke ich Dir ein Stück der Kronenberg/Buckschen Wagenscheinübersetzung mit meinen Kommentaren und Vorschlägen. - Ich denke, die Übersetzung ginge, wenn man Wagenschein einfach mal "auf den Markt werfen" will. Anders gesagt, sie ist so, wie sie jetzt vorliegt wohl nciht schlechter als viele andere Übersetzungen. Nun ist dies aber leider kein Kompliment ... Ich stimme Dir also zu, dass mehr Genauigkeit und Detailtreue und mehr Einfühlung in die poetisch / philosophischen Zwischentöne und Abgründe nötig wären, wenn die Übersetzung mehr als - naja – OK sein soll.

Leider konnte ich nur einen relativ kleinen Textteil wirklich prüfen, da diese Arbeit für mich - primär aus technischen Gründen - sehr aufwendig ist: Wenn ich so was öfters tun würde, müsste ich die Texte an sich in Blindenschrift haben, um wirklich frei von einem zu andern wechseln und vergleichen zu können. Auch fehlt mir in diesen Fällen immer ein Wörterbuch! - Heute kam noch erschwerend dazu, dass mein Bildschirmleseprogramm mit dem RTF-Format - vielleicht auch mit den Korrekturfärbungen oder sonst was - ziemlich mühe hatte, so dass es alle paar Minuten  ausgestiegen ist.

Ich habe mich vielleicht auch bei Kleinigkeiten aufgehalten, anstatt mich auf grobe "Fehler" zu spezialisieren, aber Du wolltest ja keine vollständige Korrektur, sondern zuerst einmal ein Feed-Back.

Ich bin zwischen dem 8. und ca. 20. Juli weg - in Germania!  Ich habe mir einen Job als Hilfsarbeiter  angelacht, um  auch meine Arme und Hände, meinen Rücken und was da sonst noch so dran ist an einem Menschen zu brauchen. Ich werde Roswita, einer ehemaligen OSO- und Ecole-Schülerin beim Umbau eines Pfarrhauses (Nähe Greifswald) helfen, welches ab Herbst für  erziehungsgefährdete Jugendliche bereit sein soll. Ich freue mich auf die körperliche Arbeit und die andere Umgebung!

Sag mir doch bei Gelegenheit, was ihr in Sachen Wagenschein-Übersetzung weiter vor habt.  Wenn ich Zeit hätte, so wäre es ja sehr reizvoll, die Sache gemeinsam mit einem geeigneten Muttersprache-Engländer oder einer Amerikanerin zu unternehmen, aber ich fürchte, dass dies zu aufwändig ist, selbst wenn Ihr - die Entscheidungsträger!!! - die Idee begrüssen würdet.

Nun. Qui vivra verra!

Ich wünsche Dir für heute mal einen schönen Sommer und ...

O! Zwei Dinge noch: Das Geheeb-Buch ist zumindest äusserlich auf dem Hasliberg und im Kreise meiner hiesigen Freunde sehr gut angekommen. Da hat der Verlag sich Mühe gegeben, und ich denke, das hat Geheeb - habe ich - vor allem Dir und Deiner Initiative zu verdanken, das Buch in die NEF-Reihe aufzunehmen.

Und Ganz herzlichen Dank auch für den Blindenschrifttext, der schon vor ein paar Monaten für mich in der Ecole angekommen ist. Ich habe Euer Werk ("Natur und Bildung. Über Aufgaben des Naturwissenschaftlichen Unterrichts ...") während meiner in letzter Zeit recht häufigen Pendelleien zwischen dem Hasliberg und Basel einigermassen eingehend studiert. Hmmm. Ja ... Nein. Ich enthalte mich jetzt eines weiteren Kommentars, sonst wird dieser Brief nie fertig, und ich möchte den  Abend doch noch ein wenig für andere Dinge nützen.

Ich glaube, meine Hauptmühe mit dem Text entspricht dem, was ich im Zusammenhang mit Wagenschein und Wagenschein-Menschen auch immer wieder feststelle: Ich bin von der Liebe zur Sache, von dem Appell zum genauen Hinsehen, der Aufforderung, kritisch zu prüfen, ob man wirklich weiss, was man zu wissen glaubt, immer sehr wohltuend berührt. Und diese Dinge sind ja letztlich auch sehr "politisch", indem sie dort, wo sie praktiziert werden, unvermeidlich zur Stärkung des einzelnen Menschen führen und damit auch "nach Aussen" wirken. Dennoch vermisse ich sehr häufig eine direktere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, in die wir unser Lernen weitgehend einsperren. Hier wünschte ich mir mehr Klarheit und Engagement. Implizit ist es ja vorhanden, doch das reicht vielleicht nicht ... Mehr Engagement wünsche ich mir natürlich auch von mir - gerade in Bezug auf die Verstümmelung des Lernens, wie sie bei uns auf breiter Front geschieht. Mehr Engagement in diesen Dingen und weniger  historische Elfenbeintürmelei! Da war mir dann auch Euer Aufsatz zu still, zu  "fachbezogen" ... Zugleich kann man natürlich mit einem gewissen recht sagen, dass gerade die stillen Dinge Wirkung entfalten können, weil  sie nicht sofort abgewehrt und weggedrängt werden ...  -  Aber ich wollte mich ja des Kommentars enthalten!!! - Schön wäre es, wenn wir wieder einmal ausgiebig Zeit für solche und andere Themen hätten! Da lass uns mal hoffen und guter Dinge sein!

Für heute alles Gute und herzliche Grüsse, Martin