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An Sascha X., 7./8. Dezember 1997, Basel

Sacha, Du! Hab Dank für Dein letztes Mail. Du meinst, ich sei vielleicht enttäuscht, weil Du nur wenig auf meinen Brief eingegangen, sondern mir vor allem von Dir und Jürg erzählt hast. Enttäuscht? Nein, weshalb! Überhaupt nicht. Ich freue mich, dass Du meinen letzten Brief zum Teil oder auch ganz, das weiss ich nicht,  gelesen hast -, ja, ehrlich, das freut mich! Es ist wie "gesehen werden", wahrgenommen werden.

Ein Stückchen von mir ist bei Dir angekommen -, irgend etwas -, ein erster Eindruck, und es kommt Neugier, ein "ja" zurück -, nicht Gleichgültigkeit oder Ablehnung. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich bin diesbezüglich wohl nach wie vor sehr unsicher - ein gebranntes Kind, wenn Du so willst -, denn so viel Akzeptanz und Freundschaft ich meist bei den Menschen um mich her finde -, es sind kaum je schwule Männer unter ihnen -, diesen gegenüber bin ich vielleicht gehemmter und sie sind es im Durchschnitt vielleicht auch mir gegenüber. Naja und dann natürlich: Wo trifft man(n) sie? Wo kommt man(n) mit anderem Man(n) auf "offenem Feld" zusammen - nicht in der Szene, einer Bar, mit den so tief sitzenden vorgegebenen Begegnungsabläufen, sondern eben: auf offenem Feld, wo ich Dich auch als "Künstler" und Bastler, als Kontaktsucher und Kontaktstifter, als dies und das erlebe ...

Interessante schwule Männer, die mich mögen, die sich mir nahe fühlen, schwule Freunde also - das ist etwas, was ich schon lange sehr vermisse in meinem Leben. Ob es dabei um Sex und Erotik geht -?  Vielleicht auch, aber auch um Gespräche, um Erfahrungsaustausch, um geteilte und mitgeteilte Gedanken, Empfindungen, Ängste, Träume, Interessen, Faszinationen! Und -, je mehr ich von Dir lese, desto interessanter erscheinst Du mir -, "interessant" heisst ... innerlich reich, vielschichtig, fähig in und mit Widersprüchlichem und Ungewohntem zu leben, empfindsam wohl auch und suchend, nachdenklich ...

So kommst Du jedenfalls bei mir an. Zu diesem Bild beigetragen haben Deine Briefe und auch das, was ich gestern Abend auf Deiner Homepage gelesen bzw. gehört habe, das, was Du dort über Dich geschrieben hast, aber auch das, was ich dort unter der Überschrift "Stich-Worte" und "Gedanken" oder unter "Buchtip" vorgefunden habe! Irgendwie sind mir all diese Dinge bei meinen bisherigen Besuchen auf Deiner Homepage entgangen!

Ja, ich bin wirklich sehr neugierig, und würde Dich gerne einmal treffen. Natürlich baut auch meine Phantasie, genährt von tausend eigenen Träumen kräftig an dem Sachabild mit und die Gefahr einer schmerzlichen Ent-Täuschung besteht -, doch es besteht auch die Möglichkeit einer angenehmen Bestätigung meiner Eindrücke oder gar einer unerwarteten und positiven Überraschung  durch den real existierenden Sacha.

Dass Du ein Mensch von der Strasse, von der untersten Schicht seist - oder wie hast Du es formuliert? -, das empfinde ich eher als interessant, als anziehend, sicher nicht als Mangel, denn "meine" Welt,die kenne ich ziemlich gut. "Deine" Welt dagegen, so wie ich sie mir anhand der bisherigen Hinweise vorstelle, ist für mich neu und voller Fragen und Geheimnisse! Da kriege ich eine grosse Lernlust. Allerdings: Letztlich kommt es natürlich auch nicht auf diese "exotische Differenz", sondern vor allem auf die Werte und Haltungen an, welche mein Gegenüber, in diesem Fall also Du in Sachen Liebe, Arbeit, Menschenglück und -unglück, Traum und Wirklichkeit etc. etc. hast! Ich bin in vielen Dingen sehr naiv und unwissend und würde mich sehr freuen, in diesen Bereichen durch Dich dazuzulernen!

Uff. Sacha. Das klingt vielleicht alles ziemlich theoretisch und abgehoben. Es sind vielleicht die Vorbereitungen des Menschen, der sich anschickt, demnächst vom 3-Meter zu springen - Rituale, mit welchen der ungeübte Springer sich selbst zu beruhigen und seine Angst zu überspielen versucht! Ja. Die Idee, Dich zu treffen, macht mich schon etwas nervös - aber: Nervös ist schön!

Ich komme diese Woche nicht nach Bern. Ich habe mich entschlossen am Mittwoch via Luzern nach Basel zurückzufahren und dort meine (98-jährige) Grossmutter und meine Gothe zu besuchen, anstatt mich in Bern  zu zeigen nur damit man mich dort nicht "vergisst". Morgen und übermorgen bin ich auf dem Hasliberg, wo ich im Archiv der Ecole d'Humanité arbeite und meine Mutter, die im nächsten Dorf (Reuti) wohnt, besuche. Ab Mittwoch Abend bin ich hier in Basel schon ziemlich ausgebucht: Chorimprovisation am Mittwoch Abend; am Donnerstag eine Arbeitssitzung mit meinem hiesigen Vorleser und danach eine grosse Einkaufstournee durch die Basler Warenwelt, um für unser vorweihnachtliches Familientreffen vom kommenden Wochenende gerüstet zu sein ... Dieses Treffen findet in Zweisimmen statt, da kann ich auf der Fahrt durch Bern ja schon mal an Dich und Jürg und Eure hoffentlich schöne gemeinsame Woche denken! Am Freitag treffe ich mich mit meinem Cousin, ein seltenes, aber schönes Ereignis! ... Irgendwann nach all diesen Aktionen - also irgendwann nach dem 14. Dezember - will ich dann jedoch noch einmal nach Bern, um dort noch aufzuräumen  und mich offiziell  bis Anfang Januar zu verabschieden.

Vielleicht könnten wir uns ja an dem Abend irgenwo in der Stadt oder bei Dir treffen ... - ? - Wenn ich Dir zu lange zögere mit dem Sprung vom Dreimeter, dann kannst Du ja auch bei mir anrufen, sodass wir diesen Termin schon früher fest vereinbaren und ein wenig miteinander reden können. Meine Telefonnummer lautet 061 311 15 01 ...

So. Jetzt ist aber genug geredet für heute (und auch für Morgen und Übermorge"n!). Hab noch einmal vielen Dank für Deinen Brief, von dem ich, wie gesagt, nicht enttäuscht war!

Ich wünsche Dir eine gute, spannende, lustvolle und lustige, schöne und liebendige Woche mit (und zwischendurch vielleicht auch ohne) Jürg - eine gute Zeit einfach! - Herzliche Grüsse und bis bald, Martin