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An Bertrand S., 6. September 1993

Bertrand, caro mio! Verlegenes Lachen, Betroffenheit, Beruhigung und Nachdenken hast Du in mir ge­weckt durch Deine Reaktion auf unser Zeitungsprojekt! Du bist jedenfalls ein Mensch, der noch eigene Gedanken hat und nicht einfach mitklappert im allgemei­nen Überlebensgeklappere. Das an sich ist schon mal sehr erfrischend und wohltu­end, auch wenn die Gedanken selber, das, was Du sagst, tatsächlich eine unbequeme Heraus-Forderung sind. Mensch, Bertrand, will ich denn "heraus"? Ich spüre so viel Zögern, soviel Ängstlichkeit in mir, dass ich dazu nicht so einfach und leicht "ja" sagen kann.

Du hast in Deinem Brief viele Dinge angesprochen, die auch mich beschäftigen, Dinge, die ich jedoch immer wieder auf die Seite schiebe, weil sie so schlecht in meine jetzige Welt zu passen scheinen. Um eine gewisse Ordnung in das Chaos dieser Gedanken und Empfindungen zu bringen, will ich versuchen, mich an die von Dir angesprochenen Punkte zu halten.

Du freust Dich über meinen "Optimismus". ... O zerbrechliches Gebilde! O trügerische Stärke. Ich wäre sehr gern ein Mensch mit nie versiegendem Optimismus, ein Ermutiger, der auch noch die "Ermutiger" zu ermutigen weiss! Ein Held an inneren Kräften ... Doch leider leider hat mir das Leben davon wie es scheint nur ein ziemlich durchschnittliches Quantum mitgegeben! - Wenn aus den Unterlagen zu unserem Zeitungsprojekt "Optimismus" herausklang, so ist dies zumindest zu einem gewissen Teil auch Verkaufsstrategie.

1. Ich persönlich stehe dem Projekt sehr ambivalent gegenüber. Als Idee leuchtet es mir eigentlich ein, wobei es tatsächlich nach "mehr vom Selben" riecht und damit also, bei genauerem Nachdenken vielleicht durchaus das falsche ist. Wenn ich diesbezüglich noch schwanke, so ist doch eigentlich ganz klar, dass das Projekt für mich selber das "Falsche" ist. Ich bin im Augenblick in der etwas verzwickten Lage, ein Projekt in Gang bringen zu wollen (will ich wirklich?), bei dem ich selber eigentlich nicht mitmachen will. Ob das geht? Ob das überhaupt "legitim" ist? Ob ich im richtigen Augenblick loslassen kann oder von dem rollenden Projekt mitgeschleift werde, weil ich zu lange festgehalten habe? Da kann ich nur hoffen! - Falsch ist das Projekt für mich selber, weil ich von Pädagogik, von Papier, Schule und Schulreform, Schulkritik etc. etc. schon seit einiger Zeit die Nase so voll habe, dass ich mich damit immer nur mit innerem Widerstreben beschäftige, mich gewissermassen immer wieder hineinziehen lasse von einer Begeisterung, die schon längst keine Begeisterung mehr ist, mich anstecken lasse von einem Optimis­mus, der mir schon längst fad geworden ist. Es ist nicht so, dass ich an meine Ideen, meine Vision einer anderen Welt nicht mehr Glaube, nur scheint dieser Glaube sich allmählich zur Wehr zu setzen gegen das Zimmerpflanzendasein, zu dem er seit einiger Zeit verurteilt zu sein scheint. Ich möchte reisen -, am liebsten zu Fuss oder auf einem Segelboot! Möchte Erde spüren, Menschen begegnen - neuen Geschichten und Gesichtern, Gesängen und Sorgen! - möchte erleben und Wind und Wasser, Körper, Tiere, Atem, Hitze und Kälte fühlen, körperliche Müdigkeit und Kraft auch bei mir selber! Möchte auch "geistig" wieder einmal das Gefühl von Weite haben, möchte also auch "geistig" heraus aus der momentanen Enge, in die ich mich aber immer selbst wieder hineinstecke, indem ich mich zB brav noch einen Monat und noch einen zwischen der Redaktion unseres kleinen "endlich!", dem "Ini­tiativkreis für Freiheit im Bildungswesen" und der "Vereinigung freier Schulen der Schweiz" hin und her bewege - Topfpflanzen pflege und verkaufe, statt im Ur­wald, in der Steppe und im Gebirge spazieren zu gehen!

In mir ist das Bedürfnis nach (und die Angst vor) Aufbruch! - Ein Zeitungspro­jekt, wie das von uns ins Auge gefasste, würde, wenn ich eine tragende Rolle darin übernehmen würde, eindeutig "mehr vom Selben" bedeuten -, wäre (vielleicht) Aufstieg, aber nicht Aufbruch. - Aufstieg, zu dem die Vernunft rät und von dem mein lobbedürftiges Innere sich schon jetzt geschmeichelt fühlt!

2. Doch auch losgelöst von meinem eigenen Widerstreben (für das ich ja auf eine glückliche Lösung, ein glückliches Entkommen! hoffe) habe ich einige Zweifel gegenüber der Zeitungsidee, Zweifel, die Du zum Teil formuliert hast: In einer Zeit der überquellenden Briefkästen, des ausser Rand und Band geratenden Papier­verbrauchs, der übervollen Mülltonnen und Hirne noch einmal mit einer Zeitung auf den Markt zu drängen, die schon bedrängte Menschheit noch mehr zu bedrängen - im Namen einer total wichtigen, guten Sache natürlich -, muss das sein? Sollte uns da nicht etwas Originelleres und Sinnvolleres einfallen? Hält das Lesen von Zeitungen und Büchern, auch (ja vielleicht gerade) von kritischen Zeitungen und Büchern, nicht davon ab, selber tätig zu werden (im Sinne des von Dir angesprochenen Ungehorsams)? ... Ist eine "pädagogische" Zeitung überhaupt das, was ich (inhaltlich) noch will und wenn es keine pädagogische Zeitung sein soll, sind dann Alternativschulen und ähnliche Kreise wirklich die geeigneten AnsprechpartnerIn­nen und MitmacherInnen? ... Und dann die von Dir ebenfalls angesprochene Frage der Organisation: Wie ist innere Lebendigkeit und Echtheit vereinbar mit den organisatorischen (und ideologischen) Zwängen, die ein solches Projekt vielleicht unvermeidlich mit sich bringt? ...

Eigentlich müssten wir über diese Punkte ausführlich miteinander reden können, nicht nur jetzt, sondern immer wieder, denn gewiss: All dies sind Sackgassen, in die so ein Projekt leicht hineingeraten kann. Im Augenblick bin ich diesbezüglich jedoch wirklich optimistisch: Da wo ich nach meinen Interessen lesen konnte, hat Geschriebenes schon oft sehr wohltuend auf mich gewirkt. Gewiss kann das alternative Leibblatt mit der Zeit auch zum Tranquellaeiser  werden, aber muss dies zwangs­läufig so sein. Kann man die LeserInnen dieses Leibblattes nicht (durch Wort und Bild) immer wieder aus dieser Bequemlichkeit herausschubsen und genau diese Frage thematisieren (zB. mit einer Aktion "Schluss mit meinem Abo!"). Und dann: Wie steht es mit den Möglichkeiten als Zeitung "mehr als bloss Papier" zu sein (ich habe in dem Konzept darüber geschrieben). Kann die Zeitung nicht auch zum Handeln heraus-fordern und er-muntern und selber handeln, indem sie aktiv bestimmte Aktionen und Aktivitäten - politische, künstlerische, anarchische - unterstützt oder selbst anzettelt, welche zu dem dringend notwendigen Austausch über die Themen führt (oder diesen doch fördert), die uns bewegen (Du merkst, ich sage "uns", denn ich habe wirklich immer wieder das Gefühl, dass es Dir und mir im Kern um dieselben Anliegen und Sorgen geht, wenn wir auch (ganz) anders damit umgehen). Falls ich selber überhaupt in irgendeiner Weise mit der Zeitung verbunden sein möchte, dann eben im Hinblick auf die bewusste Wahrnehmung und Entwick­lung dieser Möglichkeiten. Die Zeitung nicht als Endprodukt sondern als Ausgangs­punkt für Begegnungen, Aktionen, Initiativen ... Die Zeitung nicht als Wertneu­trales Konsumobjekt, sondern als wirkende Kraft, als Mittel zur Agitation -, sind diese Vorstellungen Sackgassen oder Selbsttäuschungen? Was meinst Du? Entspricht diese Idee nicht genau Deiner Erfahrung von der Begrenztheit des Wortes? Wie wäre zB eine Zeitungsnummer, die nur aus Luftballons besteht - Luftballons mit Slogans und Karikaturen - dazu vielleicht noch ein Bogen mit Kleber und ein Brief: "Heute mal selbst was tun!" ...

Diese Vision hängt mit einer Idee zusammen, die mich im Zusammenhang mit meinem "Engagement" in den vielen pädagogischen Vereinen, die ich oben kurz erwähnt habe, seit einiger Zeit mehr und mehr beschäftigt -, sie weist auch in eine Richtung, die für mich persönlich im jetzigen Moment meines Lebens die "richtige­re" zu sein scheint (richtiger als das reine Zeitungsmachen, Texten, Redigieren, Meldungen sammeln, Werbeaktionen planen etc.). Ich denke, wir könnten uns vielleicht sogar dieses Zeitungsprojekt sparen, wenn wir den Mut für unorthodoxen provozierenden Protest hätten. Mich bedrängt diese ganze Bildungssache jedenfalls immer wieder so sehr, dass ich denke, ich müsste die ganze Papierstufe einfach auslassen und gerade so wie ich bin - jetzt - ohne Infrastruktur und Organisation auf die Strasse gehen - auf irgendeinen Platz und mit einem Hungerstreik anfangen oder mich ans Pestalozzidenkmal in Zürich anketten, einfach so. Was würde ich sagen, ich, der ich gelernt habe, dass man nur dann protestieren darf, wenn man diesen Protest auch begründen kann. Mein Gott, wenn's nicht besser geht, würde ich einfach sagen, "Ich finde unser Bildungswesen schlimm, ganz schlimm, inhuman, verbrecherisch. Ihr müsst selber Nachdenken. Fragt mich nicht. Ich weiss nur, dass irgendjemand mal den Mund auftun muss um zu schreien und ich weiss, dass eigentlich Viele schreien möchten, aber sich nicht zu schreien getrauen." Eine "moralische Tat", so nannte das kürzlich jemand, scheint überfällig. Allerdings mel­det sich da gleich die Skepsis, die warnende (entschärfende) Innenstimme: Persön­liche Problembewältigung, Verarbeitungsversuch unverarbeiteter Verletzungen ... wen interessiert das schon. Doch in stillen Nächten, wenn ich mehr als sonst in und bei mir bin, lese oder schreibe, dann fühle ich, dass dies eigentlich der Schritt ist, den ich tun müsste, wenn ich wirklich in der Pädagogik bleiben will. - Aus diesem Grundgefühl heraus wuchs auch die Idee, eine Art Greenpeacebewegung in Sachen Bildung zu schaffen, eine Organisation oder Gruppierung also, die sich nicht mehr zufrieden gibt mit schönen, dummen und gescheiten Texten, mit neuen und immer neuen Zeitungsprojekten, 4, 8 und 12-Farbenaufmachung, Ballons und Flugblätternö, sondern die sich traut, einzugreifen, nein zu sagen, zu blockieren und zu sabotieren. - Billig? Zu billig? Persönliche Probleme, nicht verarbeitete Verletzungen zu einem öffentlichen Problem machen - geht es darum? Darf man das? - Ja. Es geht wohl auch darum! Und weshalb soll es nicht erlaubt sein, das Kind beim Namen zu nennen, von sich und dem, was man selbst erlebt zu sprechen. Dass es als "unfein" gilt ist doch nur ein Versuch, sich "unqualifizierte Kritik" vornehm vom Halse zu halten!

Ich erinnere mich, dass Du anlässlich meines Besuches in Siegburg (oder war es in einem Deiner Briefe?) gesagt hast, dass Du am Kritisieren nicht interessiert seist, dass Kritik eine unnötige Kraftvergeudung darstelle. Kann es sein, dass Du so was gesagt hast? Nun. Für mich ist das anders. Ich halte Kritik 1. für nicht ganz einfach und 2. für wichtig. Wer mehr sagen kann, sage mehr. Wer "nur" kriti­sieren kann, öffne den Mund und tue es! In diesem Sinne würde ich eine Bewegung der radikalen Kritik für sehr gut halten, und es sind weniger prinzipielle Bedenken, die mich da zurückhalten als vielmehr mein ängstliches, wohlerzogenes Ich (bzw. das mir eingezogene Ich-Surrogat). - Wenn ich trauen würde, dann würde ich - und wer weiss: Vielleicht traue ich ja auch einmal.

Dies alles hat wieder eher mit dem zu tun, was sich in mir tut. Es scheint mir jedoch durchaus denkbar, dass eine tatsächlich engagierte Zeitung (kein pädagogi­sches Unterhaltungsblatt) hier ermutigend wirken kann.

3. Hier wird nicht nur die Grenze des Organisierbaren sichtbar (denn solche "Taten" lassen sich nicht durch Organisation erzeugen, sie passieren oder passieren nicht), sondern hier wird auch die von Dir angesprochene Frage der Koalitionspar­tnerInnen und der in Frage kommenden Leserschaft aktuell. So wie ich in Sachen Zeitung denke, das Eine tun und die vielen anderen, ebenfalls wichtigen Dinge nicht lassen - so denke ich auch in Bezug auf alternative Schulen: Jetzt bereits "andere", vielleicht wirklich freiere Schulen anbieten und über sie schreiben und zugleich darüber hinaus denken und planen. Keine definitive Beschränkung auf Päda­gogik, sondern Pädagogik im Bewusstsein ihrer Fragwürdigkeit und mit dem Ziel eines Daseins jenseits von Pädagogik. Irgendwie so stelle ich mir die gedankliche Basis dieser Zeitung vor. Dass dies zu Spannungen und Konflikten führen kann -besonders dann, wenn man es wagt, die Pädagogik der sogenannten "freien" Schulen in Frage zu stellen, statt sich auf den Buhmann der gewöhnlichen Staatsschule zu konzentrieren, das habe ich inzwischen auch am eigenen Leibe erlebt. Doch gerade aus diesen Spannungen heraus könnte / müsste eine solche Zeitung auch leben und sich weiter entwickeln können, wenn die Kommunikation zwischen den ZeitungsmacherInnen, zwischen denen, die dieses Projekt als ihr Projekt verstehen, tatsächlich "funktioniert". ...

Ein langer Brief. Viele Worte - vielleicht mehr als Du hören und lesen magst, und vielleicht doch nicht die richtigen Worte? Lieber Bertrand. Eine Heraus-Forderung war Dein Brief schon (und bist Du überhaupt immer wieder)! Aber ich will ja "heraus". Also ist es gut und schön so! Dass Du an unserer Nicht-Kommunikation in letzter Zeit wenig Freude (oder keine mehr) hattest, kann ich verstehen, denn durch Deine Fragen an mich fühlte ich mich immer schnell bedrängt, fühlte mich bedroht und in Frage gestellt, was ich nicht in Frage stellen lassen wollte, weil ich zu unsicher war, was denn wohl "danach" - nach der Entlarvung einer Illusion - kommen würde. Irgendwie war ich doch mit dem Gedanken "Alternativschule" lange eng verbunden und erst nach und nach scheine ich innerlich und äusserlich darüber ­hinaus zu wachsen. - Dass hier das Zeitungsprojekt - zumindest die momentane Beschreibung desselben - noch etwas unklar ist, mag mit zu Deiner Skepsis beigetragen haben: Hier ein Bisschen Alternativschule, dort ein wenig Entschulung und Kinderrechtsbewegung. So meine ich es nicht, aber so sieht's zur Zeit vielleicht noch aus. ...

Ich kriege bald Besuch und will deshalb schliessen. Es gäbe noch sehr viel zu sagen - auch zu den "Verletzungen" durch die Schule, von denen ich oben gesprochen habe, von den Quellen meiner Ängstlichkeit, die mir weitere Schritte (äussere Taten und inneres Akzeptieren bestimmter Einsichten) erschweren etc. Statt diesen Brief jedoch bis zu seiner absoluten Vervollkommnung in meinem PC liegen zu lassen, will ich ihn lieber so, wie er im Laufe dieses Nachmittags (mit zwei, drei Unterbrechungen) geworden ist, an Dich absenden. - Hoffentlich enthält er nicht zu viele Satzfragmente und Tippfehler! Aufs Durchlesen verzichte ich zu Gunsten des Salates, den ich meinem Freund servieren möchte, wenn er kommt!

Ich werde - a propo kommen - ca. 18./19. November wieder in Witten sein. Hättest Du Zeit und Lust, Dir wieder etwas Zeit für uns zu nehmen? Dürfte ich wieder mal für einen Tag oder einen halben zu Euch kommen? - Das wäre dann vielleicht auch die Gelegenheit, das hier begonnene Gespräch weiterzuführen!

Lieber Bertrand, danke für Deine Ehrlichkeit und für Deine Präzision! Sei mir weiterhin, wenn es nötig ist, eine freundschaftliche Zumutung. Ich will mich meinerseits auch Dir mehr zu-muten -, soweit ich dies traue jedenfalls!

Ganz herzliche Grüsse an Dich und Anita!