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An Daniel C., 21. März 2003

Hoi Dani, Ich bin glücklich wieder daheim. Pierre Stutz war eine Geduldsprobe. Meine Reaktion zuerst Ungeduld und aufflackernder Hochmut. Ich fand das, was er sagte, alles ziemlich banal und eitel dazu. Als Lehrling in angewandtem Humanismus habe ich dann versucht, mich etwas zu entspannen. Es ist halt sein Weg, lass ihn doch, hab ich gedacht. Naja, besser wurde der Abend nicht, aber was soll's. Wenn ich's früher gewusst hätte, wäre ich lieber an die Demo, die 100 Meter weiter stattfand.

Dein kurzes Mail von heute Abend hab ich gekriegt. Ich habe danach selbst wieder einmal geschaut, welche Spuren ich eigentlich so im Internet hinterlasse. Das, was Dir heute Nachmittag begegnet ist, ist eine Mailingliste, die ich mit einigen anderen vor zweieinhalb Jahren ins Leben gerufen habe, so eine Art virtueller Diskussionsclub zum Thema Ausbildung und Sehbehinderung. Anstoss dazu war Pina, eine Freundin von mir, ebenfalls blind, die seit ein paar Jahren in Fribourg studiert und dort fast drauf gegangen ist wegen all den behinderungsbedingten Zusatzproblemen, mit denen sie sich dort herumschlagen musste. Sonst findet man mich natürlich noch im Zusammenhang mit Geheeb und hie und da im Zusammenhang mit Alternativschulen, doch liegen diese Aktivitäten leider vor der Internetzeit, sodass sie wohl bald im Nebel der Geschichte versunken sein werden ...

Ob meine Hände besonders fein oder gschpürig sind ... ja, man denkt sich das so, aber ich bin mit derlei Aussagen vorsichtig. Natürlich brauche ich meine Hände sehr viel und wohl auch (ohne mir dessen bewusst zu sein) intensiver als jemand, der sieht. Etwas zu berühren ist wie etwas sehen. Dabei reicht oft ein kurzer Griff, ein flüchtiges Drüberstreifen, und ich weiss um was es geht. Das ist vielleicht eine besondere Geschicklichkeit. Auch das Lesen mit den Fingerspitzen ist so etwas. Aber wenn ich z.B. an so etwas wie Massage oder Reiki denke, komme ich mir nicht besonders sensibel vor. Da ist ja mehr gefragt als wache Hände. Mit dem Hören und dem Riechen ist's ähnlich. Es gibt viele Menschen, deren Sinne schärfer sind als bei mir, aber meine Aufmerksamkeit ist natürlich an Orten, an denen sie vielleicht weniger wäre, wenn ich dauernd mit sehen beschäftigt wäre. Neben den Ohren denke ich da vor allem auch an so was wie "das Innere", Körpergefühl und sonstige, nach innen gehende Wahrnehmung.

Deine Texte werden mir von meinem Quaselcomputer vorgelesen. Das ist eigentlich eine gute Sache, natürlich zuerst etwas gewöhnungsbedürftig, weil der Computer nicht gerade ein sensibler Vorleser ist. Ich kann zwar verschiedene Stimmen auswählen, kann das Tempo und die Lautstärke bestimmen, doch danach behandelt der Kasten alles gleich, egal ob's dabei um ein Rezept für Spaghetti carbonara oder ein Mail von Dir oder um sonst was geht. Wie gesagt, gewöhnungsbedürftig, aber jedenfalls praktisch. Vielleicht ähnlich wie die Druckschrift, welche im Grunde ja auch eine totale Standardisierung bedeutete. Egal ob Liebesseufzer oder

Drohbrief: Die Buchstaben verändern ihr aussehen nicht, sie fangen nicht an zu zittern oder sich vorzubeugen oder zurückzulehnen und aus der Reihe zu tanzen wie in den Zeiten als man solche Dinge noch mühsam von Hand zu Papier brachte. Unbefriedigend ist die Vorleserei u.a. bei Gedichten, die würde ich lieber selber  lesen. Mit den "Veränderungen" ging's noch, aber die "Morti"-Worti wollten nicht so recht hüpfen und springen - legato apassionato stacato moderato - wie Du mir empfohlen hast. Das war sehr schade, so wie wenn ein Publikum nicht reagiert. Ich sass vor dem Compi und wollte die Kiste irgendwie zum Leben und tanzen bringen, aber mira bira bim bam bumm, die Maschine erwies sich als ziemlich dumm. Wenn ich einen Blindenschriftdrucker hätte, hätte ich den Text sicher ausgedruckt, um ihn richtig (d.h. von Hand!) zu lesen und die Worte zum tanzen zu bringen. Mira bira 23, Worti torti lassmal rann hat mir sonst aber gut gefallen 23, gefallen 23 fallen 23 fallen 23 und humor im tor und chor kann mich rann und fühlen im chor den tor und 23 23 23 Schluss mit dem Stuss! O Erguss! OOO Erguss!

Du hast geschrieben, mein Blindsein sei für Dich kein Problem. Nun ja. Es wird sich weisen. Ich weiss es nicht. Es fehlt da vielleicht einiges, was Dir sehr wichtig ist. Aber so oder so, ändern kann ich's nicht. Weisst Du, ich bin da vielleicht auch etwas zynisch oder hart, weil - ja warum eigentlich. Ach, die zu schnell bekundete Akzeptanz und die zu leicht beteuerte Toleranz. Ich traue den Menschen da nicht - auch bei Dir will ich die Frage vorläufig lieber noch ein wenig offen lassen. Klar. Du bist ein aufgeklärter und denkender Mensch. Aber - und da schliesse ich vielleicht zu schnell von mir auf andere -, ich kenne ja die Gespenster, die in bestimmten kritischen Momenten aus ihren Gräbern steigen und mich zum Invaliden, zum Mindermenschen machen.

Ich spüre die mitleidigen Blicke und sehe, wie Doktor Mengele seinen weissen Kittel anzieht, um mich von meinem Leid zu erlösen. Da denke ich mir, dass solche Reste doch auch in Dir und anderen sind! Wenn man sich kennt, ja dann, aber diese Vertrautheit braucht Zeit. Nicht ewig, aber doch ein bisschen Zeit.

Als ich ungefähr ein halbes Jahr alt war hat man gemerkt, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmte. Ich hatte was man so "frühkindliches Glaukom" nennt. Ich musste operiert werden, um den ständig steigenden Augendruck in Griff zu kriegen. Das hat gut funktioniert, doch wobei die Augen in der Zeit schon stark gelitten hatten. Nach diesem Eingriff, also so ca. ab meinem 6. Lebensmonat musste ich alle paar Wochen nach Zürich ins Augenspital, um den Augendruck zu messen. Das ging damals nur mit einer leichten Vollnarkose ... Diese fahrten von Meggen, wo wir damals wohnten, nach Zürich waren für meine Mutter und für mich  (mein Vater war wohl selten dabei) ein ziemlicher Stress. Oft kriegte ich im Vorfeld einer solchen Fahrt Fieber. Ich glaube, die Narkosen waren schlimm, denn da war kein vertrauter Mensch, nur fremde Gestalten, weisse Kittel und dunkle Gänge und dann der Gestank (des Äthers) und die Ohnmacht. Meine Mutter musste im Wartezimmer warten. Als ich ungefähr ein Jahr alt war, war ich für ein paar Wochen im Spital, wider der Augen wegen. Dabei kriegte ich eine Lungenentzündung. Es muss damals ziemlich knapp gewesen sein. Ich habe eine vage Erinnerung (vielleicht auch das Produkt späterer Erzählung) an sehr viel weisse Gestalten, die um mein Bett herum stehen und irgendwie sehr still sind. Damals sagte einer der mich behandelnden Ärzte zu meiner Mutter, dass es doch vielleicht besser wäre, wenn ich sterben würde, da ich doch nie ein "normales" Leben würde leben können. - Und ich liege da und hoffe, dass die mir helfen zu leben. Naja. Später gab's immer wieder ähnliche Geschichten. Viel Unbeholfenheit von Seiten der Ärzte, zum Teil auch einfach Dummheit und Schnodrigkeit. Für diese Menschen war es klar, dass ich mit meiner starken Sehbehinderung (damals konnte ich noch so la la sehen) mein Fleisch nicht selber schneiden oder auf einen Baum klettern kann. Zu gefährlich. Einmal verletzte ich mich mit einer Schere am Auge, weil ich beim Ausschneiden eines Strohsternes so nah ran musste, um alles gut zu sehen! Der Augenarzt - Trottel vom Dienst - behandelte den kleinen Kratzer auf der Hornhaut und machte meiner Mutter vorwürfe, weil sie mir eine Schere in die Hand gegeben hatte. Wenn diese Menschen hörten, dass ich noch immer in der gewöhnlichen Primarschule sei, dann staunten sie nur. Wie soll das gehen. Er muss doch in ein Heim ... Es gab Ausnahmen, echte Anteilnahme, echtes Interesse, aber die "er kann doch nicht ...", "es ist doch besser für ihn ..."-Reaktionen überwogen. - Ich schreibe oder rede nur selten über diese Dinge, denn meistens kümmern sie mich nicht,

doch wenn ich versuche, zu verstehen, weshalb ich den scheissnetten Menschen ihre Toleranz nicht so leicht abnehme, dann kommen mir diese Dinge in den sinn, Stories und tägliche kleine Begegnungen, die es bis heute gibt. Immer musste und muss ich beweisen und zeigen, dass es schon geht, dass es nicht so schlimm ist ...

Als ich Ende 1996 mit dem Containerschiff über den Atlantik wollte, stand im Vertrag: "Menschen über 65 nur mit ärztlichem Zeugnis; Menschen mit Behinderung ausgeschlossen", und als ich letzten Sommer meine erschlaffenden Muskeln im Fittodrom um die Ecke aufmöbeln wollte (eine absurde Idee!), erklärte  mir der Manager, dass das für mich zu gefährlich sei. Beidesmal musste ich reden, musste ruhig zuhören und geduldig sein, musste argumentieren und erklären und bitti bätti machen bis ich schliesslich meine Chance kriegte. In diesem beiden Fällen waren meine Verhandlungen erfolgreich, in anderen nicht.

Irgendwie will ich das alles erzählen, möchte vielleicht auch selber besser begreifen, was da eigentlich alles in mir drin steckt, doch für heute habe ich genug auf diesem Friedhof herumgestochert. Die Gespenster können wieder in ihre Gräber.

Ich freue mich, dass es Dich gibt, und das Du all das gelesen hast. Irgendwie scheine ich innerlich jetzt aber auf ein Riff aufgelaufen zu sein. Das Seelenschiff sitzt fest, wie wenn das, was ich eigentlich sagen wollte, nicht wirklich rauskam ... Die Zensur kommt und will den Brief kassieren, da nur erstklassige Produkte - aus einem Guss, voller Leben und Echt - die Fabrik verlassen dürfen ... O diese Zensur!

Lieber Dänu, ich hoffe, es gehe Dir gut. Das Ende Deines kurzen Abendbriefes klang eigentlich eher nicht danach. Was ja nicht erstaunt angesichts der Ereignisse des heutigen Tages. Schlaf gut oder wach gut auf, je nachdem, wann Du dies liest. Bis morgen!

Martin