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Erprobte Regeln für den blinden Wanderer von Jakob Birrer aus Luthern bei Luzern 1838

Schon unzählige Male hörte ich auf meinen Wanderungen von Sehenden die Äußerung: "Wie ist es euch doch möglich, so allein den Weg zu finden? Gewiß müßet ihr noch etwas Schein haben." Wenn ich dann betheuerte, daß ich stockblind sei, so kam ihnen die Sache durchaus unbegreiflich und wunderbar vor. Und doch beruht die Möglichkeit, als Nichtsehender ohne Führer zu wandern, auf sehr einfachen und natürlichen Regeln. Diese macht jeder Blinde sich selbst, und die Noth ist sein Lehrmeister. Auch ich habe mir solche gemacht, und erlaube mir, dieselben im Kurzen mitzutheilen. Vielleicht liest diese Andeutungen Mancher mit einigem Interesse. Daß ich damit mehr über mich selbst Aufschluß geben, als Andere belehren will, versteht sich von selbst; denn die Sehenden sind so glücklich, dießfälliger Belehrung gar nicht zu bedürfen; und was meine Unglücksgefährten betrifft, so fühle ich mich weder fähig noch berufen, ihnen Regeln irgend einer Art vorzuschreiben

 

Bei allen Verrichtungen, so auch beim Gehen, muß der Blinde den fehlenden Gesichtssinn durch desto größere Anstrengung und Übung der übrigen Sinne so viel als möglich zu ersetzen suchen. Während die Sehenden sich beim Gehen ausschließlich auf das Auge verlassen, muß der Blinde seine Zuflucht zum Gefühl, Gehör und Geruch nehmen. Begreiflich, daß er mit diesen drei Mitteln immer noch viel übler dran ist, als der Sehende mit seinem einzigen, dem ja immerhin die übrigen auch zu Gebote stehen; und eben so begreiflich, daß der Blinde weit mehr als der Sehende Verstand und Gedächtniß zu Hilfe nehmen muß, um sich mit einem neuen Wege bekannt zu machen, oder einen schon bekannten wieder zu finden.

Will der Blinde durch eine Stadt gehen oder in derselben herum, so bedarf er das erste Mal eines Führers. Von diesem lasse er sich recht Vieles erklären und benennen. Er erkundige sich, wenn er mit ihm durch eine Hauptstraße geht, besonders auch darnach, wie viele Nebengassen sich auf jeder Seite befinden, wie dieselben heißen, ob sie steil oder eben, breit oder enge, lang oder kurz seien. Er gebe genau Acht auf jedes Geräusch, das sich regelmäßig hören läßt, und das ihn also nachher beim Alleingehen leiten kann-, z. B. das Geräusch von Flüssen, Brunnen, Mühlen, Sägen und Schmiedewerkstätten. Eben so verschaffe er sich vermittelst des Geruches so viele leitende Merkmale als möglich. Dazu bietet sich ihm in Städten vielfältige Gelegenheit dar; denn hier finden sich Apotheken, Färbereien, Gerbereien, Schlachthäuser, Bäckereien, Spezereiladen, Pferdeställe u. s. w. Alle diese Örter lasse sich der Blinde durch die Nase dem Gedächtnisse zuführen; so wird ihm dieses das Gehen ohne Führer sehr erleichtern.

Er thut gewöhnlich besser, den Häusern nachzugehen, als die Mitte der Straße zu halten, besonders wenn er bald in eine Seitengasse abzulenken hat. Zwar nimmt er diese Gassen schon durch den Zug und Druck der Luft und durch den Schall der Fußtritte wahr; nur muß er sich in Acht nehmen, daß er nicht einen offenen Hausgang für ein Nebengäßchen halte; ein Irrthum, der mir wirklich schon begegnet ist.

Kommt ihm ein Gefährt nach oder entgegen, so weiche er bei Zeiten und mit Sorgfalt aus. Er stelle sich hinter einen Wehrstein, wenn gerade ein solcher vorhanden ist, oder schmiege sich an eine Hausthüre hin, oder lenke in eine Seitengasse ab, wenn er eine solche ganz nahe weiß. Dann warte er ein Weilchen, um nicht etwa unter ein anderes Gefährt hinzulaufen, das er des ersten wegen nicht kommen hörte.

Bei jedem Gerassel halte er so lange inne, bis er die Fußtritte der Leute wieder hören kann. Sonst rennt er häufig an jemanden an, namentlich an leise auftretende Frauenzimmer, die schnell mit einem Schrei des Entsetzens in ein" impertinent" ausbrechen, aber auch eben so schnell, den Thäter erkennend, zur höflichsten, mitleidigsten Abbitte schreiten. Beim Entgegenkommen von Schirmen nehme er sich in Acht, daß die Stäbe derselben ihm nicht ins Gesicht fahren. Blind würde er freilich nicht, wenn ihm die scharfen Spitzen auch die Augäpfel aufritzten; allein für die Sehenden wären seine ausgeronnenen Augen ein gar ärgerlicher Anblick.

Die Erfahrung hat mich belehrt, wie gefahrvoll für den Blinden das Gehen über hölzerne Brücken sein kann, wo sehr oft bei Ausbesserungen einzelne Bretter weggenommen werden. Schon zwei Male, auf der Schwertbrücke in Zürich und auf der Hofbrücke in Luzern, lief ich Gefahr in den Strom zu stürzen; doch war ich jedes Mal so glücklich, auf einen Balken hinzutreten und die Gefahr frühe genug zu bemerken. Um aber nicht zuletzt in der Gefahr umzukommen, erkundige ich mich jetzt vorher, ob an der Brücke, über die mein Weg führt, keine Ausbesserungen vorgenommen werden.

In der Regel kann sich der Blinde in Städten leichter und gefahrloser zurechtfinden, als in Dörfern; denn hier sind die Straßen und Häuserreihen weniger gerade und regelmäßig, hier befinden sich Bäche, schlechte Stege, Mistwürfen, jauchlöcher, Kellerstiegen, so daß der Blinde jeden Augenblick auf eine Gefahr stößt. Hat er aber, auch in der ungünstigsten Ortschaft, sich auf seinen Gängen mehrere Male begleiten lassen, die erforderlichen Aufschlüsse eingezogen, und sich durch genaues Aufmerken und Nachdenken von allen Wegen und Abwegen eine Zeichnung vor seiner Seele entworfen; dann wird er es auch hier zu einer Selbständigkeit bringen, die Sehende in ein übertriebenes Erstaunen setzt, das den Blinden fast stolz machen dürfte. Und wenn er es wirklich wäre, müßte man nicht zugeben, er habe ein gewisses Recht dazu, sein Stolz sei ein verzeihlicher, wofern es überhaupt einen verzeihlichen Stolz gibt? ich denke ja, und will aus Erfahrung sagen, warum.

Für den Sehenden ist das Gehen mehr ein Müßiggehen, als ein Arbeiten; Nichts ist dabei bethätigt, als die Beine; was die Augen thun, merken sie nicht einmal. Wir Blinde aber müssen beim Gehen unablässig nicht nur alle unsere Sinne, den Geschmack ausgenommen, sondern auch unsern Geist anstrengen, um beständig zu wissen, auf welcher Stelle des Weges wir uns ungefähr befinden, um das Ablenken in einen Nebenweg nicht zu vergessen, um jedem Hindernisse zur rechten Zeit auszuweichen u. s. f. Dächten wir während des Gehens etwas Fremdartigem nach, oder ließen wir uns durch irgend ein ungewöhnliches Geräusch zerstreuen, so würden wir bald in völlige Verwirrung gerathen, und ohne die Auskunft eines Sehenden nur mit Mühe oder vielleicht gar nicht wieder ins rechte Geleise kommen. Der blinde Wanderer ist in dieser Beziehung mit einem ungeübten Drescher zu vergleichen, der, um den Takt beibehalten zu können, bei sich selbst beständig zählen muß, oder es wenigstens nicht wagen darf, sich in das Gespräch der übrigen Drescher zu mischen. Mir scheint - beiläufig gesagt aus Obigem hervorzugehen, daß ein Blinder viel weniger als ein Sehender um einer herumziehenden Lebensart willen den Vorwurf eines Müßiggängers verdiene, und doch ist man mit diesem Namen gegen Meinesgleichen oft erstaunlich freigebig.

Es ist für den Blinden ein sehr hinderlicher, oft gefährlicher Umstand, wenn seit seiner frühern Durchreise Verbesserungen oder Veränderungen in den Straßen vorgenommen oder angefangen worden sind. Einige Male schon kam ich auf meinen Wanderungen durch den Kanton Zürich in den Fall, an Stellen, wo neue Straßenanlagen die alte Straße abschnitten und dann plötzlich endeten, lange Zeit warten zu müssen, bis zufälligjemand kam oder sich in der Nähe hören ließ, der mir wieder auf den rechten Weg helfen konnte. Man wird begreifen, daß Solches weder gesund noch angenehm ist, besonders im Winter; da könnte man vor lauter Harren am Ende ganz und gar erstarren.

Übrigens hat der Winter wegen des Schnees für den blinden Wanderer eine vortheilhafte Seite. Durch das Fahren und Laufen werden nämlich die Wege fest, und der lockere, unangebahnte Schnee daneben, der sich von dem angebahnten leicht durchs Auftreten unterscheiden läßt, weist ihn bei jeder Abweichung wieder zurecht. Besser ist's, wenn sehr viel, als wenn sehr wenig Schnee liegt; in diesem Falle ist eine Verirrung gar wohl möglich, weil die angebahnten und unangebahnten Stellen zu wenig gegen einander abstechen. Bei Schnee und Wind soll der Blinde sich vor denjenigen Wegen hüten, die wenig begangen werden, und in denen sich tiefe Stellen mit zugewehten Schneemassen vorfinden.

Was den Wind insbesondere betrifft, so muß ich sagen, daß derselbe dem blinden Wanderer immer ein Hinderniß ist. Bei großer Heftigkeit kann er mich ganz außer Fassung bringen, und mir die Ohren betäuben, daß ich mich auf ihren wichtigen Dienst gar nicht mehr verlassen kann. Ist dieses doch schon der Fall bei einem bloß vorübergehenden Geräusche. Nähert sich mir z. B. auf meinem Wege ein Trommelschläger, so muß ich, um mich nicht zu verwirren und dann zu verirren, stille stehen, bis er mir etwa zwanzig Schritte vom Leibe ist.

Auch heftiger Regen ist sehr hinderlich; und begleitet ihn dann gar noch starker Wind, so fühlt der blinde Wanderer sich doppelt übel daran. Wind und Regen sind seine Nacht. Erst vor Kurzem verfehlt ich ein mir wohl bekanntes Haus nur darum, weil das Rauschen des daneben stehenden Brunnens von demjenigen des Windes und des Dachrinnenwassers übertönt wurde.

Bei meinen Wanderungen gebrauche ich die Vorsicht, mich immer genau nach den Stellen zu erkundigen, wo zwei oder mehrere Wege zusammenstoßen, damit ich nicht eine falsche Richtung einschlage. Sagt man mir z, B., nach einer Stunde müsse ich rechts ablenken, und schon vorher seien zwei Abwege, der eine auf der linken Seite, eine Viertelstunde von hier, der andere auf der rechten, eine halbe Stunde von hier: so halte ich mich zuerst auf der rechten Seite der Straße, bis ich glaube, den ersten Abweg hinter mir zu haben. Dann gehe ich auf der linken Seite, um nicht in den zweiten Abweg zu geraten. Ehe ich aber eine Stunde gelaufen bin, so vertausche ich die linke Seite wieder mit der rechten, um den Seitenweg, den ich einschlagen soll, nicht zu verfehlen.

Beim Eintritt in Häuser sei der Blinde sehr behutsam, theils um nicht selbst Schaden zu nehmen, theils um nicht Schaden zu verursachen. Auch hier kann ich aus Erfahrung reden. In Luzern ging ich auf ein Haus zu, neben dessen Haupteingang eine Glasthüre in einen Laden führte. Ich verfehlte die Hausthüre, und wollte die Ladenthüre öffnen. Es war kalt, und ich hatte Handschuhe an, so daß ich das Glas nicht fühlte. Da nun die Thüre nicht aufgehen wollte, gab ich ihr mit beiden Händen einen kräftigen Stoß, und es erfolgte ein schreckliches Krachen und Klingeln, das mich nicht weniger als sechszehn Batzen kostete. Ohne Handschuhe wäre mit dieses nicht begegnet. Darum sollten eben wir Blinde überhaupt keine Handschuhe tragen, auch bei der größten Kälte nicht. Wie gerne rühmen wir uns nicht dessen, daß wir mit den Fingern sehen können! So ist denn ein Blinder, der Handschuhe trägt, eben so thöricht als ein Sehender, der sich die Augen verbindet.

Aus: birrer, J.: Sonderbare Erinnerungen und merkwürdige Lebensfahrten des Blinden Jakob Birrer von Luthern. Erstmals erschienen 1838 bei Orell Füssli in Zürich. Hier zitiert nach der von Louis Näf besorgten und mit einem Nachwort versehenen Neuausgabe aus dem Jahr 1999, Verlag des Willisauer Boten, Willisau 1999, S. 114-121